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Stellungnahme der Nationalen Kommission für die Polioeradikation zum Nachweis infektiöser Polioviren (cVDPV2) im Abwasser mehrerer deutscher Städte

In mehreren deutschen Städten hat das Robert Koch-Institut (RKI) im Rahmen eines Forschungsprojektes im Abwasser infektiöse Polioviren nachgewiesen, vom Schluckimpfstoff Typ2 abgeleitet, sog. VDPV2 (vaccine-derived poliovirus 2) [1]. Auch in anderen europäischen Ländern gab es Nachweise von VDPV2 [2, 3]. Polioviren können sich im Abwasser nicht eigenständig vermehren. An den Fundorten müssen daher Personen Polioviren ausscheiden, die sie möglicherweise auf andere Menschen übertragen können. VDPV können wie die Poliowildviren Poliomyelitis auslösen. Eine spezifische Therapie ist nicht verfügbar, aber vollständig geimpfte Personen sind vor der Erkrankung geschützt.

Poliomyelitis, abgekürzt „Polio“, auch als "Infektiöse Kinderlähmung" bezeichnet, ist eine hochansteckende Infektionskrankheit, die bei jedem infizierten Menschen ohne Immunschutz ausbrechen kann. Die Übertragung erfolgt vorwiegend fäkal-oral. Schutz vor der Erkrankung besteht nach vollständiger Impfung. Bei nicht ausreichend geimpften Personen kann sie zu Meningitis /Enzephalitis, evtl. irreversibler akuter schlaffer Lähmung (AFP) der Muskulatur und sehr selten auch zum Tod führen.

Weltweit stehen zwei unterschiedliche Polioimpfstoffe zur Verfügung: eine Schluckimpfung („Lebendimpfstoff“), die abgeschwächte vermehrungsfähige Impfviren enthält (oral polio vaccine, OPV nach Sabin); und ein inaktivierter Polioimpfstoff (inactivated polio vaccine, IPV nach Salk), der in den Muskel gespritzt wird („Totimpfstoff“). Die Schluckimpfung wird derzeit in mehreren Ländern eingesetzt, da sie sehr effektiv schützt, die Weiterverbreitung von Polio im Sinne eines Gemeinschaftsschutzes unterbinden kann und leicht zu verabreichen ist. Diese abgeschwächten Impfviren werden auch von Immungesunden mit dem Stuhl bis zu 6 Wochen lang ausgeschieden. Während der starken Virusvermehrung im Darm und der längeren Zirkulation in einer ungeimpften Bevölkerung können sich die Impfpolioviren genetisch durch spontane (Rück-)Mutation so verändern, dass sie als VDPV wieder Erkrankungen hervorrufen können. In Deutschland wird seit 1998 ausschließlich mit IPV-Impfstoff geimpft. Menschen, die durch IPV vollständig gegen Polio geimpft wurden, sind vor der Erkrankung geschützt, können sich aber infizieren und Polioviren ausscheiden.

Der letzte (importierte) Fall von Poliomyelitis in Deutschland trat 1992 auf. Seit 2002 ist die Region Europa als poliofrei zertifiziert. Seither muss diese Poliofreiheit fortlaufend nachgewiesen werden. Die große Herausforderung dieses Nachweises besteht darin, dass eine Poliomyelitis mit AFP nur in etwa 0,5 % der Infizierten und ungeschützten Personen auftritt und eine Zirkulation von Polioviren in der Bevölkerung lange unentdeckt bleiben kann. Zur Überwachung der Poliosituation können folgende Methoden zum Einsatz kommen: (a) Überwachung der akuten schlaffen Paresen (AFP-Surveillance), (b) Überwachung von Enterovirus-Infektionen (Enterovirus Surveillance, Polioviren gehören zu den Enteroviren) und (c) ergänzendes Umweltmonitoring (wie z.B. Virusnachweis im Abwasser).

In Deutschland ist der Verdacht auf Poliomyelitis nach § 6 IfSG, sowie der Labornachweis von Polioviren gemäß § 7 IfSG meldepflichtig. Darüber hinaus gelten die internationalen Gesundheitsvorschriften (International Health Regulations (2005, IHR), siehe §12 IfSG). Als Überwachungssystem der Poliofreiheit wird in Deutschland die Enterovirus-Surveillance (EVSurv) durchgeführt. Im Rahmen EVSurv wird seit 2006 allen pädiatrischen und neurologischen Kliniken in Deutschland zur differentialdiagnostischen virologischen Abklärung von Fällen mit AFP und Meningitiden/Enzephalitiden eine unentgeltliche Enterovirus-Diagnostik angeboten. Unter den in Deutschland zirkulierenden Enteroviren fanden sich bisher keine Polioviren.

Zur Ergänzung dieser syndromisch genannten Surveillance wurde am Nationalen Referenzzentrum für Poliomyelitis und Enteroviren (NRZ PE) im Rahmen eines vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderten Forschungsprojekts die Methode der Abwassertestung auf Polioviren etabliert. Da sich Viren nur intrazellulär vermehren können und Polioviren nur beim Menschen vorkommen, stammen die gefundenen Polioviren aus den Ausscheidungen menschlicher Wirte. Unter geeigneten Bedingungen können Abwassertestungen deshalb als Früherkennungssystem eingesetzt werden, um notwendige Maßnahmen frühzeitig einzuleiten, z. B. gezielt Impfungen anzubieten und/oder die Surveillance zu intensivieren. 2022 wurden Polioviren (VDPV2) in Abwasserproben in London nachgewiesen [4]. Mit einer geeigneten Aufklärungs- und Impfstrategie konnten dort symptomatische Fälle von Poliomyelitis verhindert werden [5].

In Deutschland wurden im Rahmen dieses Forschungsprojets in Zusammenarbeit mit dem Umweltbundesamt (FG Mikrobiologische Risiken) und weiteren Kooperationspartnern aktuell VDPV2 in Abwasserproben aus München, Dresden, Hamburg, Köln, Bonn, Düsseldorf und Mainz nachgewiesen. Die molekularbiologische Analyse der Nukleotide der viralen RNA weist darauf hin, dass es sich möglicherweise um multiple Einträge handelt. Auch in anderen europäischen Ländern (Spanien, Polen, Finnland, England) gab es ähnliche Nachweise [2, 3]. Weitere Ergebnisse und deren Interpretation sind abzuwarten.

Aufgrund der immer noch relativ hohen Impfquoten und guter Hygienebedingungen geht man in Deutschland bisher von einer geringen Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von VDPV2-bedingten Erkrankungen aus. Bei einer Zirkulation von Polioviren ist es jedoch möglich, dass Fälle symptomatischer VDPV2-Infektionen mit AFP unter nicht ausreichend immungeschützten Menschen auftreten.

Aufgrund dieser Situation weist die Nationale Kommission für die Polioeradikation auf die gesetzlichen Meldepflichten gemäß §§ 6 und 7, sowie § 12 IfSG hin und unterstützt folgende vom RKI empfohlenen Maßnahmen [2]:

  • Erhöhte Wachsamkeit in Hinblick auf Poliomyelitis-typische Symptome, insbesondere akute schlaffe Lähmungen (AFP); ggf. Diagnostik gemäß RKI-Ratgeber.
  • Nutzung der unentgeltlichen Diagnostik auf Enteroviren (dies schließt Polioviren ein) mit Hilfe des Labornetzwerks für Enterovirusdiagnostik (LaNED) für alle pädiatrischen und neurologischen Kliniken zur differenzialdiagnostischen Abklärung von Meningitiden bzw. Enzephalitiden sowie akuten schlaffen Lähmungen. Einsendescheine können per E-Mail an EVSurv@rki.de mit Angabe der gewünschten Menge und der Klinikadresse kostenlos angefordert werden.
  • Händehygiene: Polioviren werden mit dem Stuhl ausgeschieden, sind sehr umweltstabil und werden vorwiegend durch Kontaktinfektion übertragen. Deshalb ist auf eine effektive Händehygiene zu achten [6], (im medizinischen Bereich: Wirkbereich viruzid, siehe RKI Liste geprüfter und anerkannter Desinfektionsmittel unter weitere Informationen).
  • Überprüfung des Impfstatus gegen Polio, ggf. Vervollständigung oder Auffrischung entsprechend den aktuellen STIKO-Empfehlungen, bei jedem Arztkontakt, insbesondere
    • a) bei Kindern, Jugendlichen und bei Erwachsenen ohne vollständige Grundimmunisierung bzw. Auffrischimpfung,
    • b) bei Geflüchteten, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, sowie
    • c) bei Personen mit einem beruflichen Risiko, z. B. in Gemeinschaftsunterkünften, in medizinischen Einrichtungen mit engem Kontakt zu Erkrankten sowie in Laboren mit Infektionsrisiko.

Da aktuell Kinder in Deutschland als besonders vulnerable Gruppe häufig zu spät und unvollständig geimpft werden, sollen alle Säuglinge nach STIKO primär korrekt geimpft werden, also mit 2, 4 und 11 Monaten, und alle Kinder und Jugendlichen sollen mit 9-16 Jahren eine Auffrischimpfung erhalten. [7]

Quellen:

  1. Epid Bull 2024;48:21-22 | DOI 10.25646/12938
  2. Epid Bull 2024;49:14 | DOI: 10.25646/12945
  3. Science 2024;|DOI: 10.1126/science.z6bdtub
  4. The Lancet2022;400: 1531-1538 |DO 10.1016/S0140-6736(22)01804-9
  5. https://www.gov.uk/government/publications/inactivated-polio-vaccine-ipv-booster-information-for-healthcare-practitioners/polio-immunisation-response-in-london-2022-to-2023-information-for-healthcare-practitioners, aufgerufen am 18.12.2024
  6. Antiviral Research 1983,3:25-41, |DOI 10.1016/0166-3542(83)90012-8
  7. Epid Bull 2024;50:11-16 | DOI 10.25646/12955

Stand: 20.12.2024

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