Polio-Laborcontainment und potenziell Poliovirus-enthaltendes Material (PIM)
Antworten auf häufig gestellte Fragen (FAQ)
Hintergrund
Zum jetzigen Zeitpunkt gelten die nachstehenden Containment-Vorgaben für alle Poliowildviren Typ 2 (WPV2) und Poliowildviren Typ 3 (WPV3), sowie vom Impfstoff abgeleitete Viren Typ 2 und Typ 3 (Vaccine derived poliovirus; VDPV2 & VDPV 3) und für Polioimpfviren Typ 2 (Sabin 2, OPV2).
Solange OPV3 noch Teil der Impfung ist, fällt es nicht unter das Containment.
Neben bekanntem Poliovirus-haltigen Material stellt auch Material, welches möglicherweise Polioviren enthalten könnte (= potenziell Poliovirus-enthaltendes Material, PIM), eine Infektionsquelle dar, weil es zu einer absichtlichen oder unbeabsichtigten Freisetzung von Polioviren (PV) aus dem Labor führen kann. Es ist daher unbedingt zu beachten, dass das Containment auch diese Proben einschließt. Die Identifizierung und Gefährdungsbeurteilung von potenziell Poliovirus-enthaltendem Material stellt allerdings eine große Herausforderung dar.
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Was ist potenziell Poliovirus-enthaltendes Material (PIM)?
Dazu zählen insbesondere Stuhlproben, Rachenabstriche und Abwasserproben, die aus geografischen Regionen bzw. Zeiten stammen, in denen Poliowildviren (WPV) oder Impfstoff-abgeleitete PV (vaccine-derived polioviruses, VDPV) zirkulierten bzw. mit Lebendimpfstoff (OPV) geimpft wurde. Dabei muss die Probe nicht explizit auf Polio untersucht worden sein. Der Annex 2 des WHO-Dokuments zu PIM enthält eine Liste mit den letzten autochthonen Poliofällen sowie der letzten Nutzung von OPV jedes Landes (Link siehe unten).
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Für welche Labore ist potenziell Poliovirus-enthaltendes Material relevant?
Angesprochen sind hier insbesondere alle Labore, die folgende Untersuchungen durchführen:
- Rotaviren/Noroviren
- Enteroviren
- Masern
- Influenza und andere respiratorische Viren
- Hepatitis A und E
- andere gastrointestinale Erreger (Bakterien, Pilze, Parasiten)
- Abwassertestung
- Ernährungsstudien
Auch nicht-infektiologisch arbeitende Labore können somit Materialien besitzen, die für das Containment relevant sind, wenn sie mit Stuhlproben, Rachenabstrichen und Abwasserproben arbeiten, die aus geografischen Regionen bzw. Zeiten stammen, in denen Poliowildviren (WPV) oder Impfstoff-abgeleitete PV (Vaccine derived polioviruses, VDPV) zirkulierten bzw. mit Lebendimpfstoff (OPV) geimpft wurde.
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Wie wird das generelle PIM-Risiko eines Labors ermittelt?
Die WHO hat ein Dokument erarbeitet, anhand dessen geprüft werden kann, ob potenziell Poliovirus-enthaltende Materialien vorhanden sind ("Guidance for non-poliovirus facilities to minimize risk of sample collections potentially infectious for polioviruses"). Der Annex 2 dieses Dokuments enthält eine Liste mit den letzten autochthonen Poliofällen sowie der letzten Nutzung von OPV jedes Landes (Link siehe unten). Abbildung 1 veranschaulicht die Identifikation von PIM.
Schema zur Erkennung von potenziell Poliovirus-haltigem Material
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Wie verfährt man mit potenziell infektiösem Material von Polioviren Typ 2 und 3?
Gezielte Tätigkeiten mit Polioviren Typ 2 und 3 (außer OPV3)sowie deren Lagerung unter Nicht-Containment-Bedingungen sind nicht mehr zulässig. Mit Polioviren Typ 1 und OPV 3 kann derzeit gearbeitet werden. Materialsammlungen sollten daher unter diesem Gesichtspunkt gesichtet und zutreffendes oder unbekanntes/unklares Material vernichtet werden. Vor allem in wissenschaftlich orientierten Instituten mit wechselnden Forschungsprojekten, häufigem Austausch des Forschungspersonals und einer Strukturierung in mehrere Arbeitsgruppen besteht die Gefahr, dass (älteres) Probenmaterial für später geplante Untersuchungen zunächst nur gelagert worden ist und die Aufarbeitung noch aussteht. Die Kontrolle der Materialsammlungen sollte als Gelegenheit genutzt werden, den Nutzen einer weiteren Lagerung solchen Materials kritisch zu hinterfragen, insbesondere wenn es keine/keine gute Dokumentation dazu gibt.
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Gibt es verschiedene Risikogruppen/Abstufungen bei PIM?
Ja. Die WHO differenziert zwischen Material, welches potenziell Impfviren OPV/Sabin enthält, und solchem Material, welches potenziell WPV/VDPV enthält. Die Bearbeitung von WPV2 & 3 / VDPV2 & 3 PIM (Ausnahme RNA) unter Nicht-Containment-Bedingungen ist nicht mehr zulässig. Für die Bearbeitung von OPV2/Sabin2 PIM muss eine Risikoklassifizierung durchgeführt werden. Diese bezieht sowohl die Art des Materials als auch die Methode, welche angewendet werden soll, mit ein. Tabelle 1 zeigt die verschiedenen Abstufungen in der Risikoklassifizierung. Das abgeleitete Risiko legt dann die Risikominimierungstrategie fest (siehe Tabelle 2).
Tab. 1: Risikoklassifizierung ausschließlich für OPV/Sabin PIM nach Materialtyp und geplanter Methode im Labor;
Liquor, Serum/Blut und andere klinischen Materialien, die hier nicht genannt sind, sind keine PIM;
*=Polioviren wachsen auf fast allen humanen- und vom-Affen-stammenden Zelllinien. Zusätzlich expremieren zwei murine Zelllinien (GVO) den PV-Rezeptor CD155
PIM-Typ | Verwendete Methoden im Labor | Risiko |
---|
Stuhlproben oder konzentriertes Abwasser
| Virusanzucht auf Zellkultur (Polio-permissive Zellen*) | moderat |
andere Methoden | niedrig |
extrahierte Nukleinsäure aus Stuhlprobe oder konzentriertes Abwasser
| Transfektion in Polio-permissive Zellen* | moderat |
andere Methoden | am niedrigsten |
Respiratorische Proben
| Virusanzucht auf Zellkultur (Poliopermissive Zellen*) | niedrig |
andere Methoden | am niedrigsten |
extrahierte Nukleinsäure aus respiratorischen Proben
| KEINE Transfektion in Polio-permissive Zellen* | niedrig |
andere Methoden | am niedrigsten |
klinisches Material, welches mit validierten Methoden inaktiviert wurde (Formalin) | jede | kein PIM |
Tab. 2: Risikominimierungsstrategien für die jeweiligen Risikogruppen
*=nur Kurzzeitaufbewahrung, festgelegt durch das BMG bis zur finalen Lösung, Risikominimierungsstrategien sind auch bei Lagerung dem PIM-Typ anzupassen;
** = empfohlen;
+ = Strategie ist anzuwenden;
n/a = Strategie ist nicht anzuwenden
| Risikoklassifizierung |
---|
Strategie zur Risikominimierung | moderat | niedrig | am niedrigsten | ausschließl. Lagerung* |
---|
Anzeige der PV PIM im nationalen Register (in D: nach IfSG 50a an lokale zuständige Behörde, Weiterleitung über Landesbehörde an Poliokommission) | + | + | + | + |
Biosecurity: z.B.: abschließbare Tiefkühler, eingeschränkter Zutritt, Mitarbeiter-Trainings | + | + | + | + |
Biosafety: GLP, Dokumentation, Validierung der Methoden/SOPs wie im GAP III beschrieben | + | + | + | n/a |
Riskassessment für jeweilige Labormethode | + | + | + | + |
Polio-Impfung der Mitarbeiter | + | + | n/a** | n/a |
Zertifizierung nach nationalen und internationalen Standards (inkl. Biosafety und Biosecurity) | + | n/a | n/a | n/a |
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Zählt extrahierte Nukleinsäure (RNA) zum potenziell Poliovirus-enthaltenden Material?
Generell ja. Jedoch kann mit RNA weiterhin unter Nicht-Containment-Bedingungen gearbeitet werden, wenn keine Zellkultur (insbesondere Transfektionen) und keine Tierversuche durchgeführt werden.
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Was müssen Diagnostik-Labore beachten?
Die Diagnostik von Poliovirusinfektionen soll natürlich weiterhin gewährleistet sein. Molekulare Untersuchungen zum diagnostischen Zweck (PCR, Sequenzierung) sind durchführbar. Wird jedoch in einer Probe Poliovirus Typ 2 oder Typ 3 (außer OPV3) nachgewiesen, so ist das infektiöse Originalmaterial nach Abschluss der Arbeiten zu vernichten oder bei speziellem Public-Health-Interesse an eine zentrale Einrichtung (sogenannte polio essential facilities, PEF) zu senden. Zudem sind bereits begonnene Anzuchtversuche in Zellkultur abzubrechen und das Material zu inaktivieren. Serologische Tests (z.B. Neutralisationstest) mit Polioviren Typ 2 sind außerhalb von PEFs generell nicht mehr zulässig. Für serologische Tests auf Antikörper gegen Poliovirus Typ 3 darf ausschließlich OPV3 verwendet werden, da die Handhabung und Lagerung von WPV3 und VDPV3 unzulässig ist.
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