Integrierte genomische Surveillance (IGS)
Was versteht man unter integrierter genomischer Surveillance?
Die integrierte genomische Surveillance (IGS) ist eine effektive Public-Health-Strategie zur Überwachung von Infektionserregern, Infektionskrankheiten und Übertragungsgeschehen. Die IGS gewinnt weltweit zunehmend an Bedeutung.
Bei der IGS werden Daten aus unterschiedlichen Quellen miteinander verknüpft. Konkret werden die Ergebnisse moderner DNA-Sequenzierungsmethoden und Genomsequenzanalyseverfahren von Erreger-Isolaten aus Patientenproben mit den epidemiologischen Informationen aus dem Meldesystem nach IfSG und weiteren Erregerdaten verknüpft.
Diese verknüpften Daten können anschließend schnell und systematisch hinsichtlich unterschiedlicher Fragestellungen analysiert werden.
Integrierte genomische Surveillance. Quelle: © RKI
Eine gesetzliche Grundlage für eine molekulare / genomische Surveillance in Deutschland wurde mit der Novellierung des §13 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) im Juli 2017 und der Einführung des Masernschutzgesetzes im März 2020 geschaffen.
Zu den Begriffen IMS und IGS
Bisher wurde am RKI für das Projekt einer Zusammenführung epidemiologischer und molekulargenetischer Informationen im Rahmen der Überwachung von Infektionskrankheiten der Begriff "integrierte molekulare Surveillance (IMS)" geprägt. Im internationalen Kontext wird, insbesondere seit der COVID-19-Pandemie, hauptsächlich der Begriff "genomische Surveillance" verwendet. In Angleichung daran wird ab sofort der Begriff "integrierte genomische Surveillance (IGS)" verwendet, wenn der Fokus auf den genomischen Daten liegt. Der Begriff Integration umfasst dabei die Zusammenführung und die gemeinsame Betrachtung von epidemiologischen Meldedaten, genomischen und weiteren molekularen Erregerdaten. Die u.a. im IfSG (§13) verwendete Bezeichnung molekulare Surveillance schließt die genomische Surveillance, aber auch andere molekulare Ausprägungen eines Erregers ein, die ggf. für die Differenzierung von Krankheitserregern von Bedeutung sind.
Welche Ziele sollen mit einer integrierten genomischen Surveillance erreicht werden?
Das primäre Ziel der integrierten genomischen Surveillance ist die zeitnahe und bundesweite Aufdeckung einer auffälligen Verbreitung von Infektionserregern und das Erkennen von Zusammenhängen auch bei zeitlich und räumlich getrennt nachgewiesenen Erregern. Durch die IGS können Bezüge aufgedeckt werden, die andernfalls unentdeckt blieben. Beim Sequenzvergleich ergeben sich so ggf. genetische Ähnlichkeiten der nachgewiesenen Erreger, die auf Zusammenhänge etwa in Form gemeinsamer Quellen oder unbemerkter Kontakte hinweisen können.
In Verbindung mit ausgewählten Informationen zu den durch die Infektion betroffenen Personen können Ausbrüche und Übertragungsketten schneller erkannt und frühzeitig gezielte Interventionen zur Eindämmung des Ausbruchsgeschehens eingeleitet werden. Auch außerhalb ungewöhnlicher Vorkommnisse ermöglicht die IGS eine fortlaufende Überwachung des Übertragungsgeschehens.
Neben der Erkennung von Übertragungszusammenhängen bietet die IGS die Möglichkeit der fortlaufenden Erkennung und Überwachung von Erregervarianten mit veränderten Eigenschaften (z.B. Varianten mit veränderter Transmissibilität, Resistenzfaktoren gegenüber antimikrobiellen Therapeutika oder veränderter Virulenz). Mit diesem Wissen kann auf Veränderungen in den Eigenschaften von Erregern oder deren Übertragung reagiert werden.
Außerdem leistet die IGS einen wichtigen Beitrag zu Entscheidungsprozessen der Gesundheitsbehörden. Mit Hilfe der IGS werden anhand einer Zusammenschau der regionalen Verbreitung von Erregervarianten, kombiniert mit den epidemiologischen Informationen aus dem Meldesystem, maßnahmenorientierte Informationen bereitgestellt. Darüber hinaus gewährleistet die IGS die Auskunftsfähigkeit des RKI, des ÖGD sowie des BMG zu Infektionsgeschehen gegenüber nationalen Akteuren und internationalen Einrichtungen wie ECDC und WHO. Damit trägt die IGS wesentlich dazu bei, Maßnahmen zur Verhütung von Erkrankungs- und Todesfällen zu optimieren.
Wie wird die integrierte genomische Surveillance umgesetzt?
Wird ein nach § 7.1 IfSG meldepflichtiger Fall mit einem Erreger, der im Rahmen der IGS überwacht wird, festgestellt, erfolgen parallel mehrere Schritte:
Schema der IGS am RKI. Quelle: © RKI
Meldungs-ID: Identifierungsnummer, welche durch den Melder nach einem definierten Schema generiert werden muss
DEMIS: Deutsches Elektronisches Melde- und Informationssystem für den Infektionsschutz
IGS-Data-Warehouse: Daten Management Sytem
Welche Aspekte sind für eine erfolgreiche integrierte genomische Surveillance wichtig?
- Eine klinische Aufmerksamkeit für das Auftreten von übertragbaren Krankheiten.
- Die Einleitung der gebotenen Erregerdiagnostik in der konsultierten Arztpraxis.
- Eine sachgerechte Isolatgewinnung und -bearbeitung.
- Ein festgelegter Proben- und Datenfluss (Klinik/Arztpraxis > Primärdiagnostizierendes Labor > Regionallabor/Nationales Referenzzentrum (NRZ)/Konsiliarlabor (KL) > RKI).
- Die Speicherung und Verknüpfung relevanter Erregerdaten mit epidemiologischen Daten
- Die zentrale epidemiologische Auswertung der verknüpften Daten.
- Die Rückmeldung der Ergebnisse an den ÖGD und andere Stakeholder, um mögliche Gegenmaßnahmen einzuleiten.
Wie die IGS funktioniert und von Nutzen sein kann, zeigt der folgende Kurzfilm am Beispiel antibiotikaresistenter Erreger:
Integrierte Genomische Surveillance in Deutschland am Beispiel antibiotikaresistenter Erreger. Quelle: © RKI
Welche Akteure sind an der IGS beteiligt?
Um die Daten aus verschiedenen Quellen zusammenzuführen und anschließende Auswertungen zu ermöglichen, ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Gesundheitsbehörden, medizinisch-mikrobiologischen Laboren und öffentlichen Gesundheitseinrichtungen notwendig. Zudem muss eine geeignete Dateninfrastruktur vorhanden und ein Datenaustausch gewährleistet sein. Dies wird im Rahmen der IGS über DEMIS und SurvNet umgesetzt.
Beteiligte Akteure der IGS. Quelle: © RKI
Integrierte genomische Surveillance am RKI
Es ist dringend notwendig, auch in Deutschland eine leistungsfähige Infrastruktur aufzubauen, um auf nationaler Ebene eine systematische integrierte genomische Surveillance durchzuführen.
Das RKI hat bereits 2014 mit der Etablierung der IGS in Form von Modulen und Pilotprojekten begonnen. Im ersten Schritt standen durch Lebensmittelübertragbare Erreger (EHEC, Listerien und Salmonellen) sowie Tuberkulose (TB) und HIV im Fokus der Anschubfinanzierung durch Sonderforschungsmittel des RKI und Projekte des BMG.
Auf den bedeutenden strukturellen und inhaltlichen Ergebnissen dieser Projekte aufbauend, wurde im Rahmen des Pandemiegeschehens damit begonnen eine IGS für SARS-CoV-2 durchzuführen. Seit dem Jahr 2021 bzw. 2022 wird, gefördert durch das BMG, eine international vergleichbare IGS in Deutschland aufgebaut (Projektlaufzeit bis Ende 2025). Ihr Ziel ist die Konzeption, Etablierung und Evaluation der Komponenten einer IGS am RKI unter Einbeziehung der Nationalen Referenzzentren (NRZ) und Konsiliarlabore (KL). Die dafür notwendigen Prozesse sollen etabliert und eine leistungsfähige Infrastruktur für den nachhaltigen Ausbau der IGS gemäß §13 des IfSG entwickelt werden. Im Anschluss an das Projekt sollen die entwickelten Prozesse verstetigt werden.
Die Priorisierung der IGS unterliegenden Erreger bzw. Infektionskrankheiten wird periodisch vom RKI auf Grundlage der jeweils vorliegenden Situation und internationaler Empfehlungen, insbesondere vom ECDC und der WHO, durchgeführt. Es werden verschiedene epidemiologische, mikrobiologische und rechtliche Aspekte berücksichtigt und ein dreistufiges Priorisierungssystem (A - hoch, B - mittel, C - niedrig) verwendet.
Übersicht über die für den Aufbau der IGS am RKI relevanten Erreger nach Priorität der angestrebten Umsetzung. Die Erreger in der Tabelle sind zunächst nach Umsetzungspriorisierung (A - hoch, B - mittel, C - niedrig) und innerhalb dieser alphabetisch geordnet.
Erreger | Übertra-gungswege | Vorschlag Erhebungsmodus | Umsetzungs-priorisierung |
---|
EHEC / HUS | LM | Vollerhebung | A |
Listeria monocytogenes | LM | Vollerhebung | A |
Salmonella Enteritidis | LM | Vollerhebung | A |
Salmonella Typhimurium | LM | Vollerhebung | A |
(humanpathogene) Influenzaviren | RESP | Teilerhebung | A |
Invasive Neisseria meningitidis | RESP | Vollerhebung | A |
Masernvirus | RESP | Vollerhebung | A |
Mycobacterium tuberculosis | RESP | Vollerhebung | A |
SARS-CoV-2 | RESP | Teilerhebung | A |
HIV | STI | Vollerhebung | A |
Vermindert empfindliche Neisseria gonorrhoeae | STI | Teilerhebung | A |
Carbapenem-nichtempfindl. Enterobacterales | NI | Vollerhebung | A |
Carbapenem-nichtempfindl. Acinetobacter baumannii | NI | Vollerhebung | B |
Clostridioides difficile | NI | Teilerhebung | B |
Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus (MRSA) | NI | Teilerhebung | B |
Salmonella, andere Serovare | LM | anlassbezogen | B |
Hepatitis-E-Virus | LM | Teilerhebung | C |
Hepatitis-A-Virus | LM/STI | Vollerhebung | C |
Legionellen | RESP | anlassbezogen | C |
Pneumokokken | RESP | Vollerhebung | C |
West-Nil-Virus | VB | Vollerhebung | C |
Bemerkungen: Die Übertragungswege wurden in vier Kategorien eingeteilt. Die Vollerhebung eines Erregers hat das Ziel alle technisch-typisierungsfähigen Fälle zu untersuchen.
Abkürzungen:
LM | Lebensmittel-assoziierte Infektionen |
RESP | Respiratorisch übertragbare Infektionen |
NI | Nosokomiale Infektionen |
STI | Sexuell übertragbare Infektionen |
VB | Vektor-übertragene Infektionen |
Welchen Mehrwert hat eine IGS in Bezug auf respiratorische Erreger wie z.B. SARS-CoV-2?
Eine zeitnahe IGS kann bei respiratorischen Erregern wie beispielsweise SARS-CoV-2 einen wichtigen Beitrag zur Beurteilung eines epidemischen Geschehens leisten, da sie fortlaufend aktuelle Informationen über die Erreger im Kontext ihrer Verbreitung bereitstellt (z.B. Virusvarianten mit neuen Eigenschaften) und so eine valide Einschätzung der epidemiologischen Lage ermöglicht. Außerdem lassen sich auf Grundlage der IGS-Daten fundierte gesundheitspolitische Entscheidungen treffen. Auch kann die breite Öffentlichkeit umfassend informiert werden. Wissenschaftler:innen können die Krankheitslast in der Bevölkerung bestimmen und diagnostische Tests, Behandlungen und Impfstoffe der jeweils aktuellen Situation anpassen.
Wie kann die IGS in Bezug auf lebensmittelbedingte Infektionen wie z.B. mit Salmonella Braenderup nützlich sein?
Auch bei geografisch weiträumiger Verbreitung und ohne lokale Erkrankungshäufung ermöglicht die IGS den Nachweis eng verwandter Erreger und damit das Erkennen eines Ausbruchs mit gemeinsamen Quellen. Ein Beispiel hierfür ist das Auftreten von Salmonella Braenderup in 13 Ländern (wahrscheinlich durch kontaminierte Galia-Melonen verursacht) welches als Ausbruch belegt werden konnte.
Welchen Mehrwert hat eine IGS in Bezug auf nosokomiale Infektionen und antibiotikaresistente Erreger?
Antibiotikaresistente Erreger können schwer therapierbare Infektionen verursachen, die insbesondere im nosokomialen Setting eine wichtige Rolle spielen. Eine bundesweite Surveillance der verbreiteten Spezies, ihrer Stämme und Resistenzfaktoren ist daher wichtig für Public-Health-Maßnahmen und klinische Entscheidungen.
Lokale Ausbrüche von antibiotikaresistenten Erregern, bspw. in einem Krankenhaus, werden in der Regel vor Ort erkannt und bekämpft. Durch unerkannte Infektionsketten, z.B. bei Patientenverlegungen oder durch kontaminierte Lebensmittel oder Medizinprodukte können überregionale oder internationale Ausbrüche entstehen. Mit einer überregionalen Ausbruchserkennung auf der Grundlage von bundesweit erhobenen Isolaten und Meldeinformationen im Rahmen der IGS können Ausbrüche schneller erkannt, Verbreitungswege (z.B. horizontale vs. klonale Übertragung) schneller aufgeklärt und somit das Ergreifen effektiver Public-Health-Maßnahmen unterstützt werden.
Im Rahmen der IGS soll auch die generelle Verbreitung von nosokomialen, antibiotikaresistenten Erregern und ihrer Resistenzfaktoren verfolgt werden. Die Information über regional prävalente Erreger und Resistenzmechanismen kann klinisch-therapeutische Entscheidungen beeinflussen.
Welchen Mehrwert hat die IGS für sexuell und über Blut übertragbare Erreger?
Die Überwachung der HIV-Primärresistenz und der HIV-Diversität gehört zu den Amtsaufgaben des Robert Koch-Instituts. Dazu werden seit 2013 von einem Großteil der HIV-Neudiagnosen, die dem RKI nicht-namentlich gemeldet werden, resistenzrelevante HIV-Genombereiche sequenziert und eine genotypische HIV-Resistenzbestimmung durchgeführt. Darüber hinaus werden aus den HIV-Sequenzen Typ und Subtyp beziehungsweise die rekombinante Form bestimmt. In weitergehenden Analysen werden HIV-Transmissions-cluster identifiziert sowie die deutsche HIV-Epidemie unter Einbeziehung von epidemiologischen Daten phylodynamisch und phylogeographisch charakterisiert. Im Rahmen der Integrierten Genomischen Surveillance von HIV (IGS-HIV) wird, durch labortechnische und bioinformatische Automatisierung derzeit eine near-realtime Surveillance aufgebaut. Dies wird es ermöglichen Dynamiken im Ausbreitungsgeschehen von HIV noch schneller und umfassender zu erkennen und darzustellen. Ein weiterer wichtiger Aspekt der HIV-Epidemie ist der unterschiedlich lange Zeitraum zwischen HIV-Infektion und HIV-Diagnose. Daher soll eine bioinformatische Methode entwickelt werden, anhand derer die Dauer einer neu diagnostizierten HIV-Infektion basierend auf HIV-NGS-Daten abgeschätzt werden kann. In Verbindung mit epidemiologischen Daten lassen sich so vulnerable Gruppen mit später HIV-Diagnose oder akut hohem Infektionsgeschehen erkennen. Zusammenfassend liefert die IGS-HIV wichtige Informationen für die Weiterentwicklung von Test- und Präventionsstrategien sowie Therapie- und Diagnostikleitlinien. Detailliertere Informationen zu den Studien und Projekten finden sie auf den Seiten des HIV-Studienlabors.
Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt der integrierten genomischen Surveillance am RKI ist die Untersuchung von Resistenzentwicklungen bei STI. Antimikrobielle Resistenz (AMR) bei Gonokokken (Neisseria gonorrhoeae), dem Erreger der Gonorrhö, ist ein weltweit zunehmendes Problem. Innerhalb der letzten Jahrzehnte entwickelte der Erreger Resistenzen gegen alle wesentlichen Antibiotikaklassen. Der Rachen (Pharynx) gilt als wichtiges Reservoir für Gonokokken und deren Resistenzgenese. Da pharyngale Infektionen größtenteils asymptomatisch verlaufen und die Anzucht von Proben aus dem Pharynx oftmals schwierig ist, liegen jedoch nur wenige Daten zur AMR in dieser Lokalisation vor. Aus diesem Grund sollen im Rahmen der integrierten genomischen Surveillance insbesondere aus dem Pharynx isolierte Gonokokken im Hinblick auf AMR systematisch phänotypisch und genotypisch untersucht werden. Die detaillierten molekularen Daten erlauben eine phylogenetische Charakterisierung der Isolate. Mithilfe weiterer Daten aus nationalen und internationalen Genomdaten können diese dazu genutzt werden, größere Transmissionsnetzwerke abzubilden und die Dynamik der AMR-Ausbreitung in diesen Netzwerken zu analysieren. Darauf aufbauend können notwendige Anpassungen der Therapieleitlinien und der darin empfohlenen Antibiotika abgeleitet und eine sogenannte "resistance guided therapy" umgesetzt werden, welche den Patient*innen unwirksame und zu häufige Behandlungen mit Antibiotika ersparen würde.
Laufende IGS Projekte am RKI
Abgeschlossene IGS Projekte
Weitere IGS-relevante Aktivitäten
Kontaktinformationen
Wir stehen Ihnen für Auskünfte, Hinweise und Anregungen unter der E-Mail-Adresse IGS@rki.de zu Verfügung. Landesbehörden und Gesundheitsämter wenden sich bitte an surveillance@rki.de.
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