198. Genehmigung nach dem Stammzellgesetz
1. Genehmigungsinhaberin
Medizinische Hochschule Hannover
2. Zell-Linie
Die genehmigten Forschungsarbeiten erfolgen unter Verwendung der folgenden humanen embryonalen Stammzell-Linien:
- H1 (WiCell Research Institute, Madison, WI, USA)
- H9 (WiCell Research Institute, Madison, WI, USA)
- HES-2 (ES Cell International Pte Ltd, Singapur)
- HES-3 (ES Cell International Pte Ltd, Singapur)
- HES-4 (ES Cell International Pte Ltd, Singapur)
- HUES8 (Harvard University, Cambridge, MA, USA)
- I3 (Technion – Israeli Institute of Technology, Haifa, Israel)
- I4 (Technion – Israeli Institute of Technology, Haifa, Israel)
- RUES2 (Rockefeller University, New York, USA)
Die Genehmigung gilt auch für die Verwendung von Sub-Linien (z.B. von klonalen Sub-Linien oder genetisch modifizierten Derivaten) der genannten humanen embryonalen Stammzell-Linien.
3. Angaben zum Forschungsvorhaben
Gegenstand der genehmigten Forschungsarbeiten ist die Etablierung und Validierung eines komplexen Herz-Lungen-Organoid-Modells, das die ordnungsgemäße Entwicklung und Funktion dieser Organe nachbildet und an dem die Effekte genetischer Veränderungen, pathologischer Vorgänge und pharmakologischer Interventionen, die häufig verschiedene Organe betreffen, besser als in Organoiden untersucht werden können, die nur einzelne Gewebe repräsentieren. Auf der Grundlage vorangegangener Arbeiten zur Gewinnung von sog. herzbildenden Organoiden (heart forming organoids, HFOs) aus hES-Zellen sollen in einem ersten Projektteil die Vorgehensweisen zur Herstellung von HFOs mit Protokollen für die Differenzierung von Lungengewebe aus hES-Zellen kombiniert und auf diesem Wege reproduzierbare Protokolle für die Etablierung von sog. Lung-HFOs entwickelt und optimiert werden, wobei die dabei entstehenden sog. Lung-HFOs neben kardialen Zellen große Mengen an reifen Lungenepithelzellen, zusätzlich aber auch ein Blutgefäßnetz und mesenchymale Zellen, enthalten sollen. Die entstehenden Lung-HFOs sollen umfassend charakterisiert und die Übertragbarkeit des etablierten Vorgehens auf verschiedene humane ES-Zell-Linien und auf hiPS-Zellen getestet werden. In einem zweiten Projektteil soll die Eignung der gewonnenen Lung-HFOs für die Modellierung bakterieller Infektionen der Lunge überprüft werden, wofür Pseudomonas aeruginosa als Modell-Organismus Verwendung finden soll. Die in den Lung-HFOs befindlichen Zell- und Gewebetypen sollen nach Infektion mit P. aeruginosa umfassend untersucht und insbesondere auch mögliche Veränderungen in den Genexpressionsmustern verschiedener Zellen auf Einzelzellebene bestimmt werden. In einem dritten Projektteil sollen schließlich die Auswirkungen einer Infektion der HFOs mit SARS-Cov-2 analysiert und dabei u. a. die Möglichkeit untersucht werden, in diesem humanen Zellmodell einen sog. Zytokinsturm zu simulieren, der im Menschen durch eine SARS-Cov-2-Infektion ausgelöst werden und fatale Folgen haben kann. Die verschiedenen Teilprojekte sollen jeweils auch im Vergleich mit humanen iPS-Zellen durchgeführt werden, wobei aus hES-Zellen abgeleitete Lung-HFOs als Referenzmaterial genutzt werden sollen.
4. Hochrangigkeit der Forschungsziele
Entsprechend der im Antragsverfahren erbrachten wissenschaftlich begründeten Darlegung dienen die genehmigten Forschungsarbeiten unter Verwendung von hES-Zellen nach übereinstimmender Auffassung der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung (ZES) und des Robert Koch-Institutes (RKI) der Erreichung hochrangiger Forschungsziele in der Grundlagenforschung.
Derzeit verfügbare, aus pluripotenten Stammzellen des Menschen abgeleitete Zell- und Organoid-Modelle sind mit wenigstens zwei Nachteilen behaftet. Zum einen repräsentieren diese Organoid-Modelle in vielen Fällen nur ein einziges Organ mit einer limitierten Anzahl von Zelltypen, während ein Infektionsgeschehen in der menschlichen Lunge häufig auch Auswirkungen auf andere Organe und Gewebe hat. Zum anderen weisen derzeit verfügbare Lungen-Organoide, die aus pluripotenten Stammzellen des Menschen abgeleitet wurden, häufig unreife Zelltypen auf, die die Funktionen adulter Lungenzellen nur in Teilen nachbilden können. Im Rahmen der genehmigten Forschungsarbeiten sollen nun – in Fortsetzung und Ausdehnung von in der Vergangenheit zur Entwicklung herzbildender Organoide (HFO) aus hES-Zellen durchgeführten Arbeiten – ein kombiniertes, vaskularisiertes Herz-Lungen-Modell (Lung-HFO) aus hES-Zellen entwickelt und dessen Eignung für die Untersuchung der Konsequenzen zellbiologischen und molekularen Konsequenzen einer Infektion mit pathogenen Bakterien/Viren validiert werden.
Hierfür sollen zunächst zuverlässige und reproduzierbare Vorgehensweisen für die Etablierung der angestrebten Lung-HFOs aus hES-Zellen entwickelt werden. Frühe HFOs, in deren innerem Kern (IC) die Vorläuferzellen für die Lunge angelegt sind, sollen dabei spezifischen Protokollen für die Lungenzelldifferenzierung unterworfen werden und schrittweise Bedingungen etabliert werden, die zur Entstehung komplexer, vaskularisierter Herz-Lungen-Organoide führen, die dann auf histologischer, morphologischer und ultrastruktureller Ebene untersucht werden sollen; ferner sollen molekulare Eigenschaften der Lung-HFOs durch Analyse des Transkriptoms von Einzelzellen bestimmt und ihre Funktionalität überprüft werden. Im Ergebnis der hier geplanten Arbeiten wird voraussichtlich erstmals ein komplexes Herz-Lungen-Organoid-Modell verfügbar sein, in dem die Zellen einen hinreichenden Reifegrad aufweisen, um als zuverlässiges humanes In-vitro-System für die Modellierung von Krankheiten dienen zu können, die neben der Lunge auch das Herz oder das Gefäßsystem betreffen. Zudem könnte ein derartiges Organoid-Modell für die Identifizierung von Arzneimittel-targets sowie für die Entwicklung neuer Wirkstoffe verwendet und voraussichtlich besser als bislang verfügbare Zell- und Gewebemodelle für die Beantwortung toxikologischer Fragestellungen genutzt werden. Im Zuge der in Teilprojekt 1 geplanten Forschungsarbeiten sollen zudem Erkenntnisse über den genauen Ursprung von Lungen-Sphären, die sich in den HFOs bilden, gewonnen werden, was ggf. zu einem besseren Verständnis vom Ursprung und von den Charakteristika früher menschlicher Lungenzellen beitragen kann.
Im zweiten Projetteil sollen die Lung-HFOs auf ihre Eignung als Modellsystem für die Infektion mit dem bakteriellen Krankheitserreger P. aeruginosa hin untersucht werden, der als einer der häufigsten Erreger schwerer nosokomialer Infektionen gilt. Durch diese Arbeiten soll zum einen ein proof of concept für die Anwendbarkeit der hier zu entwickelnden Lung-HFOs für mikrobiologische und molekularpathologische Fragestellungen erbracht werden, zum anderen können ggf. neue Erkenntnisse über die Effekte von P. aeruginosa auf Lungen- und Herzzellen sowie auf Zellen des Gefäßsystems des Menschen entstehen, was zu einem besseren Verständnis der Pathologie von Infektionen mit P. aeruginosa beitragen kann.
In einem dritten Projektteil schließlich sollen aus hES-Zellen abgeleitete Lung-HFOs mit SARS-Cov-2 infiziert und die Effekte dieser Infektion auf die verschiedenen Zelltypen der Lung-HFOs analysiert werden. Dadurch sollen neue Erkenntnisse über die zellbiologischen und molekularen Konsequenzen der SARS-Cov-2-Infektion in einem Multi-Organoid-System gewonnen werden, in dem neben den Effekten der Infektion durch das Virus auf Zellen eines Organs auch die Konsequenzen einer ggf. veränderten Wechselwirkung zwischen Zellen verschiedener Organe infolge einer SARS-Cov-2-Infektion bestimmt werden können. Ferner soll durch Behandlung mit bestimmten Zytokinen in Lung-HFOs ein Zytokinsturm simuliert werden, also eine potentiell lebensgefährliche Entgleisung des Immunsystems, bei der es zu einer sich selbst verstärkenden Rückkoppelung zwischen Zytokinen und Immunzellen kommt und die infolge einer Infektion mit SARS-Cov-2 ein fatales Multiorgan-Versagen auslösen kann. Hieraus sollen sich wesentliche neue Erkenntnisse über die molekularen Ereignisse infolge eines Zytokinsturms gewonnen und damit ggf. ein Beitrag zum Verständnis der Pathogenese einer systemischen SARS-Cov-2-Infektion geleistet werden.
5. Notwendige Vorarbeiten und Erforderlichkeit der Verwendung von humanen embryonalen Stammzellen für die mit dem Vorhaben verfolgten Fragestellungen
Im Antragsverfahren wurde dargelegt, dass die Forschungsfragen in allen wesentlichen Punkten weitestmöglich vorgeklärt sind.
Gewebe- bzw. Organoidmodelle aus humanen pluripotenten Stammzellen sind bereits gut etabliert und finden in der wissenschaftlichen Praxis breite Anwendung. Humane Organoid-Modelle, an denen Aspekte der Entwicklungsbiologie sowie der Funktion des menschlichen Herzens untersucht werden können, sind in der Literatur kürzlich beschrieben worden. Dabei wurden entweder kardiale Organoide, die ausschließlich die Entwicklung des Herzens repräsentieren, oder aber komplexere Multi-Organ-Systeme etabliert, die die gemeinsame Entwicklung von Herz und Vorderdarm nachbilden. Die für die Durchführung der Forschungsarbeiten verantwortlichen Wissenschaftler waren maßgeblich an der Entwicklung eines Protokolls zur Gewinnung komplexerer kardialer Herz-Vorderdarm-Organoide beteiligt, die sie als Herzbildende Organoide (heart forming organoids, HFO) bezeichneten. Ebenso wurde eine breite Palette von Lungenorganoid-Modellen veröffentlicht, die aus pluripotenten Stammzellen gewonnen wurden und entweder der proximalen Lunge (Atemwegsorganoide mit Basalzellen, Becherzellen, Keulenzellen und Flimmerzellen), der distalen Lunge (Alveolen mit Alveolarzellen vom Typ 1 und 2, AT1, AT2) oder beiden ähneln. Derartige Modelle wurden bereits erfolgreich zur Modellierung einer Vielzahl von Krankheiten in vitro verwendet, beispielsweise Lungenfibrose, Mukoviszidose, Lungenkrebs und virale Atemwegsinfektionen. Auch die Möglichkeit der parallelen Entwicklung von Herz- und Lungenzellen in einem komplexen Organoid wurde bereits erprobt. Ausgehend von HFOs entwickelten sich Organoide, die allerdings vorwiegend distale und nur wenige proximale Lungenepithel-Zellen enthielten und zudem viele unreife Zellen aufwiesen.
Infektionen mit P. aeruginosa und SARS-CoV-2 sind sowohl in vitro als auch in vivo (in Tiermodellen und basierend auf Patientendaten) gut erforscht. P. aeruginosa wurde in zahlreichen Studien als Modellbakterium für Atemwegsinfektionen und Antibiotikaresistenzen verwendet, und angesichts der jüngsten Pandemie wurden umfangreiche Datensätze zu SARS-CoV-2-Infektionen und den durch die Infektion ausgelösten Pathomechanismen erzeugt, unter anderem unter Nutzung aus humanen pluripotenten Stammzellen abgeleiteter humaner kardialer und anderer Organoid-Modelle.
Im Antragsverfahren wurde ferner dargelegt, dass sich der mit dem Forschungsvorhaben angestrebte Erkenntnisgewinn voraussichtlich nur unter Verwendung von hES-Zellen erreichen lässt.
Trotz grundlegender Gemeinsamkeiten in der Entwicklungs- und molekularen Biologie des Herzens bestehen teils auch erhebliche Unterschiede zwischen den Herzen verschiedener Säugetier-Spezies, so dass zur Erreichung der Forschungsziele humane Zellen erforderlich sind. Zudem sollen die hier zu etablierenden Lungen-Herz-Organoide für die Modellierung von Infektionskrankheiten genutzt werden, die – wie beispielsweise der ursprüngliche Wuhan-Stamm von SARS-Cov-2 – insbesondere Nager nicht betreffen. Das zu etablierende komplexe Herz-Lungen-Organoid-Modell basiert zudem auf der parallelen Entwicklung von Herz- und Lungenzellen aus jeweiligen spezifischen frühembryonalen Vorläuferzellen; alle anderen humanen (Stamm)Zellen als pluripotente Stammzellen haben die hierfür erforderlichen Entwicklungsstadien aber bereits durchschritten. Außerdem ist es gerade eines der Projektziele, den Ursprung der Herkunft von Lungensphären in den HFOs zu identifizieren und damit frühe Prozesse der menschlichen embryonalen Entwicklung zu entschlüsseln, die die genannten menschlichen Zelltypen bereits passiert haben. Folglich können für die Erreichung der Forschungsziele adulte oder fötale Stammzellen des Menschen nicht verwendet werden.
Die Forschungsfragen lassen sich voraussichtlich auch nicht unter ausschließlicher Nutzung humaner induzierter pluripotenter Stammzellen (hiPS-Zellen) erreichen. Daten der Antragstellerin zeigen zum einen, dass die Herstellung von HFOs bei Nutzung von verschiedenen hiPS-Zell-Linien deutlich weniger effektiv war als bei Verwendung von hES-Zellen. Dies könnte unter anderem durch eine unvollständige Reprogrammierung und ein damit einhergehendes „epigenetisches Gedächtnis“ der hier verwendeten hiPS-Zellen bedingt sein, das einer effizienten Differenzierung in die verschiedenen Gewebe der HFOs – und damit aller Voraussicht nach auch der Lung-HFOs – entgegensteht. Zum anderen basieren die geplanten Forschungsarbeiten teils auf der Nutzung bereits etablierter, gut charakterisierter und in der wissenschaftlichen Literatur zum Teil umfassend beschriebener transgener hES-Zellen, die auf Basis von hiPS-Zellen derzeit nicht verfügbar sind. Schließlich ist es eines der Projektziele, die Fähigkeit der hier zum Einsatz kommenden hES-Zellen zur Bildung komplexer, möglichst reifer und unter den hier interessierenden Aspekten funktionaler Lung-HFOs mit dem Potential von hiPS-Zellen zu vergleichen, ebensolche komplexen Organoide bilden zu können, was die Nutzung von hES-Zellen ebenfalls erforderlich macht.
nach oben