197. Genehmigung nach dem Stammzellgesetz
1. Genehmigungsinhaberin
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC), Berlin
2. Zell-Linie
Die genehmigten Forschungsarbeiten erfolgen unter Verwendung der folgenden humanen embryonalen Stammzell-Linien:
- H1 (WiCell Research Institute, Madison, WI, USA)
- H9 (WiCell Research Institute, Madison, WI, USA)
Die Genehmigung gilt auch für die Verwendung von Sub-Linien (z.B. von klonalen Sub-Linien oder genetisch modifizierten Derivaten) der genannten humanen embryonalen Stammzell-Linien.
3. Angaben zum Forschungsvorhaben
Die genehmigten Forschungsarbeiten zielen auf die Klärung der Frage danach, ob und inwieweit das humane endogene Retrovirus HERVH an der Spezifikation der menschlichen Keimbahn beteiligt ist beziehungsweise daran beteiligte Entwicklungsprozesse moduliert oder gar reguliert. Hierfür sollen in hES-Zellen drei verschiedene LTR7-HERVH-Loci, die offenbar zu verschiedenen Zeitpunkten der Phylogenese in das menschliche Genom gelangt sind, unabhängig voneinander funktional deletiert und die sich aus den genetisch veränderten hES-Zellen differenzierenden primordialen Keimzellen zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Entwicklung umfassend hinsichtlich ihres Transkriptoms sowie ihres Methyloms untersucht werden, um mögliche Veränderung in der Zugänglichkeit des Chromatins im Umfeld der modifizierten Gen-Loci und im Genexpressionsmuster der betreffenden Zellen zu identifizieren. Darüber hinaus soll die Funktion des Gens für TEX19, das im Menschen die Retrotransposition eines anderen endogenen Retrovirus, Line-1 (L1), unterdrückt, detaillierter als bislang analysiert werden. Hierfür soll das Gen für TEX19, dessen homologes Genprodukt ES-Zellen der Maus die LINE-1-Retrotransposition unterdrückt, in hES-Zellen deletiert und anschließend die Frage untersucht werden, welche Konsequenzen dies für die Pluripotenz und Genomstabilität der genetisch modifizierten hES-Zellen und aus ihnen abgeleiteten Keimzellen hat.
4. Hochrangigkeit der Forschungsziele
Entsprechend der im Antragsverfahren erbrachten wissenschaftlich begründeten Darlegung dienen die genehmigten Forschungsarbeiten unter Verwendung von hES-Zellen nach übereinstimmender Auffassung der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung (ZES) und des Robert Koch-Institutes (RKI) der Erreichung hochrangiger Forschungsziele in der Grundlagenforschung.
Das humane Genom besteht zu etwa 8% aus Sequenzen, die von humanen enterogenen Retroviren (HERV) abgeleitet sind. Zahlreiche Studien haben zwischenzeitlich Hinweise darauf ergeben, dass die von HERV abgeleiteten Sequenzen während der (frühen) Entwicklung transkribiert werden bzw. an frühen Entwicklungsprozessen beteiligte Gene von HERV reguliert sind. Primatenspezifische Retrotransposons unterliegen dabei während der menschlichen Präimplantations-Entwicklung einer dynamischen Reaktivierung. Im Rahmen der genehmigten Forschungsarbeiten soll nun untersucht werden, ob bestimmte Varianten von LTR7-HERV an der Spezifizierung der Zellen der menschlichen Keimbahn beteiligt sind. Hintergrund für diese Fragestellungen sind Erkenntnisse der für die Durchführung der Forschungsarbeiten verantwortlichen Wissenschaftlerin, dass mit Pluripotenz assoziierte Transkriptionsfaktoren, deren Aktivität teilweise mit der Expression von HERVH in Zusammenhang steht, auch in primordialen Keimzellen des Menschen aktiv sind und daher HERVH ggf. an der Spezifizierung primordialer Keimzellen und an der Modulation genregulatorischer Netzwerke in primordialen Keimzellen (PGCs) beteiligt sein könnten.
Hierfür sollen drei zuvor identifizierte LTR7-HERVH-Loci, die aus phylogenetisch verschiedenen retroviralen Invasionen stammen, in hES-Zellen funktional deletiert werden. Bereits durch Herstellung dieser genetisch veränderten hES-Zell-Linien und ihre umfassende Charakterisierung hinsichtlich des Vorliegens von für pluripotente Stammzellen typischen Eigenschaften können voraussichtlich Aussagen darüber getroffen werden, ob und inwieweit die Präsenz und Funktionalität der jeweils deletierten Loci für die Aufrechterhaltung von Pluripotenz und genomischer Stabilität der betreffenden hES-Zellen erforderlich ist. Diese genetisch veränderten hES-Zellen sollen dann unter Nutzung bereits etablierter Vorgehensweisen in Richtung primordialer Keimzellen differenziert werden. Dabei sollen die sich differenzierenden Keimzellen zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Entwicklung sowohl auf Einzelzellebene als auch als Population umfassend analysiert werden, wobei insbesondere das Transkriptom und Epigenom in Blick genommen werden. Ziel ist es, mögliche Veränderungen in der Genexpression sowie in der Zugänglichkeit des Chromatins infolge der jeweils vorgenommenen genetischen Veränderung im Vergleich zu genetisch unveränderten Zellen zu identifizieren. Ferner sollen mögliche Veränderungen im Potential, sich in Richtung primordialer Keimzellen zu entwickeln, sowie Veränderungen in den phänotypischen Eigenschaften der sich aus den genetisch veränderten hES-Zellen entwickelnden primordialen Keimzellen dokumentiert werden. Weiterhin soll die Genomstabilität der resultierenden Zellen analysiert werden, wobei ebenfalls herkömmliche Techniken für die Bestimmung der Genom-Integrität zum Einsatz kommen sollen.
Im Ergebnis dieser Arbeiten können Kenntnisse darüber entstehen, ob und auf welche Weise bestimmte LTR7-HERVs, die zu verschiedenen Zeitpunkten der Phylogenese des Menschen in das humane Genom gelangt sind, die Spezifizierung pluripotenter Stammzellen zu primordialen Keimzellen beeinflussen und ggf. die epigenetische Integrität und genomische Stabilität humaner primordialer Keimzellen beeinflussen, modulieren oder regulieren. Auf diesem Wege soll zudem die These untermauert werden, dass aktive transposable Elemente im menschlichen Genom nicht nur im Konflikt mit ihrem Wirt stehen, sondern dass sie – beispielsweise durch Beeinflussung der Chromatinstruktur – an der Modulation genetischer Netzwerke beteiligt und an der Regulation wesentlicher Entwicklungsprozesse jenseits der Pluripotenz beteiligt sein können. Die Involvierung primaten- bzw. humanspezifischer HERVs in die Prozesse der Keimzellenspezifizierung des Menschen könnte zudem ggf. auch dazu beitragen, humanspezifische Grundlagen der Entwicklung von primordialen Keimzellen des Menschen zu bestimmen und mögliche Ursachen für Fehlentwicklungen menschlicher Keimzellen besser als bislang zu verstehen.
Über die Untersuchung einer möglichen Involvierung von HERVH in die Entwicklung von Keimbahnzellen aus hES-Zellen hinaus sollen in einem gesonderten Projektteil auch die Konsequenzen der Ausschaltung des Gens für TEX19, dessen Produkt die Retrotransposition von L1 im Menschen unterdrückt, in hES-Zellen und aus diesen abgeleiteten Keimzellen untersucht werden. Vor dem Hintergrund, dass die Deletion von tex19.1 in der Maus u.a. auch zu einer Verringerung der Kohäsin-Menge während der Meiose führt, ist zu erwarten, dass auch in aus hES-Zellen abgeleiteten Keimzellen nach Deletion von Tex19 chromosomale Anomalien und Genominstabilität auftreten. Dies soll durch die geplanten Forschungsarbeiten nun experimentell bestätigt werden, woraus sich voraussichtlich neue und wichtige Erkenntnisse über die Rolle von TEX19 und L1 in der Entwicklung früher embryonaler Zellen des Menschen und bei der Spezifizierung der Keimbahn ergeben könnten.
5. Notwendige Vorarbeiten und Erforderlichkeit der Verwendung von humanen embryonalen Stammzellen für die mit dem Vorhaben verfolgten Fragestellungen
Im Antragsverfahren wurde dargelegt, dass die Forschungsfragen in allen wesentlichen Punkten weitestmöglich vorgeklärt sind.
Die Rolle humaner endogener Retroviren, darunter HERVH, bei der Aufrechterhaltung der Pluripotenz humaner ES-Zellen ist in der Literatur gut belegt, wobei die für die Forschung verantwortliche Wissenschaftlerin maßgeblich zur Aufklärung möglicher Funktionen von HERVH bei der Etablierung naiver Pluripotenz in humanen pluripotenten Stammzellen beigetragen hat. Dabei konnte gezeigt werden, dass die Transkription der HERVH-Gene in naiven hES-Zellen deutlich verstärkt war, dass mit Pluripotenz assoziierte Transkriptionsfaktoren (darunter LBP9) in HERVH-Loci gebunden werden und dass die Depletion von LBP9 und/oder HERVH das Vermögen von hES-Zellen zur Selbsterneuerung erheblich beeinträchtigte.
Darüber hinaus wurden durch Auswertung und Vergleich zahlreicher öffentlich zugänglicher Datensätze umfangreiche In-silico-Vorklärungen durchgeführt Dabei wurde zum einen festgestellt, dass LTR7-HERVH-Loci in (potentiell) hochaktiven Enhancern angereichert sind, die teilweise Bestandteil sog. Super-Enhancer (SE) sind und das Potential haben, die Expression mehrerer umliegender Gene zu kontrollieren. Ferner wurden auf diesem Wege 43 proteinkodierende Zielgene von LTR7-HERVH identifiziert. Durch Analyse von weiteren öffentlich verfügbaren Transkriptom-Datensätzen, die von Präimplantationsembryonen und hES-Zellen stammen, konnte zum anderen bestätigt werden, dass die vorhergesagten LTR7-HERVH-Zielgene sowohl in hES-Zellen als auch in der inneren Zellmasse (ICM) früher menschlicher Embryonen exprimiert werden, wobei sich eine Spezifität der Genexpression für pluripotente Stammzellen bzw. Zellen der ICM zeigte. Weitere In-silico-Analysen unter Verwendung von Daten, die in sich in frühen Differenzierungsstadien befindlichen hES-Zellen in embryoid bodies (EBs) erhoben worden waren, ergaben zudem Hinweise darauf, dass LTR7-HERVs mit SE-Merkmalen in CD38-positiven Keimbahnvorläuferzellen stärker exprimiert waren als in anderen Zellen der EBs, wobei Gene, deren Expression in hES-Zellen durch LTR7-HERVH verstärkt wird, auch in CD38-positiven Zellen überexprimiert werden. Weitere In-silico-Analysen führten schließlich zur Identifizierung von 34 Genen in humanen primordialen Keimzellen, deren Expression durch HERVH7 angetrieben wird, was als starker Anhaltspunkt für eine Rolle von LTR7-HERVH bei der Regulation der frühen Keimzellentwicklung des Menschen gewertet werden kann.
Im Antragsverfahren wurde ferner dargelegt, dass sich der mit dem Forschungsvorhaben angestrebte Erkenntnisgewinn voraussichtlich nur unter Verwendung von hES-Zellen erreichen lässt.
Die Forschungsziele können nicht unter Nutzung anderer als humaner Zellen erreicht werden, da die hier interessierenden endogenen Retrovieren teils ausschließlich im Genom des Menschen, teils im Genom von Menschenaffen (Schimpanse, Bonobo) präsent sind. Embryonale Stammzellen aus Schimpansen oder Bonobos stehen nicht zur Verfügung; ohnehin könnte unter Nutzung solcher Zellen nur ein Teil der hier aufgeworfenen Forschungsfragen untersucht werden, wobei die Übertragbarkeit auf den Menschen ohnehin nicht gewährleistet werden könnte. Die Forschungsfragen lassen sich auch nicht unter Verwendung anderer humaner Zellen als humaner pluripotenter Stammzellen klären. Primäre menschliche Zellen sowie adulte oder fötale humane Stammzellen haben die hier interessierenden Entwicklungsstadien bereits durchschritten und können daher nicht zur Untersuchung der interessierenden Fragestellungen verwendet werden. Auch primäre primordiale Keimzellen des Menschen, die ggf. zugänglich wären, können zur Erreichung der Forschungsziele nicht verwendet werden: zum einen haben auch sie die hier interessierende Phase der Entwicklung von der pluripotenten Stammzelle zur primordialen Keimzelle bereits durchschritten, zum anderen sind sie nicht in der für die Projektdurchführung erforderlichen Menge und Reproduzierbarkeit verfügbar und aller Voraussicht nach den hier erforderlichen genetischen Modifikationen nicht in gleicher Weise zugänglich wie pluripotente Stammzellen des Menschen.
Auch humane induzierte pluripotente Stammzellen (hiPS-Zellen) können zur Klärung der hier aufgeworfenen Forschungsfragen nicht verwendet werden. Bei hiPS-Zellen besteht zum einen eine erhebliche Variabilität in den für Pluripotenz maßgeblichen Eigenschaften (insbesondere im Differenzierungspotential). Diese Heterogenität ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen: Mutationen, die ggf. bereits in den als Ausgangsmaterial für die Reprogrammierung genutzten somatischen Zellen vorhanden sind, ferner während des Reprogrammierungsprozesses erworbene De-novo-Mutationen und schließlich epigenetische Spezifika, die durch teils unvollständige Reprogrammierung bedingt sind. Ferner treten heterogene Rearrangements und Mutationsprofile in der mitochondrialen DNA auf, und ein unvorhersehbarer, instabiler Chromatin-Zustand sowie variable DNA-Methylierungs- und Histonmodifikationsmuster beeinflussen die De-novo-L1-lntegration in hiPS-Zellen. Zusätzlich zu dem uneinheitlichen epigenetischen Status von hiPSC besteht auch eine große Bandbreite an Heterogenität in der HERVH-Expression in hiPS-Zell-Linien.
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