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195. Genehmigung nach dem Stammzellgesetz

Erteilt am 11.06.2024.

1. Genehmigungsinhaberin

Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

2. Zell-Linie

Die genehmigten Forschungsarbeiten erfolgen unter Verwendung der folgenden humanen embryonalen Stammzell-Linie:

  • H1 (WiCell Research Institute, Madison, WI, USA)

Die Genehmigung gilt auch für die Verwendung von Sub-Linien (z.B. von klonalen Sub-Linien oder genetisch modifizierten Derivaten) der genannten humanen embryonalen Stammzell-Linie.

3. Angaben zum Forschungsvorhaben

In frühen Entwicklungsstadien des Gehirns wirkt eine GABAerge Neurotransmission hauptsächlich depolarisierend auf das Membranpotential und übt somit exzitatorische Effekte auf Neurone aus. Mit zunehmender Gehirn-Reifung wirkt die GABAerge Neurotransmission dann jedoch überwiegend hyperpolarisierend, wodurch es zu hemmenden Effekten auf Neurone kommt. Dieser Übergang ist für anästhesiologische Verfahren von erheblicher Bedeutung, da die Wirkung einer Vielzahl von Anästhetika, beispielsweise aus der Gruppe der Benzodiazepine, von der hyperpolarisierend-inhibitorischen Funktion von GABA abhängt. Im Rahmen der genehmigten Forschungsarbeiten unter Verwendung von humanen embryonalen Stammzellen (hES-Zellen) soll anhand humaner kortikaler Organoide die Umkehrung der depolarisierenden zur hyperpolarisierenden Wirkung von GABA während der Gehirnentwicklung mit dem Ziel untersucht werden, den Einfluß von bestimmten Anästhetika auf die Balance von exzitatorischen und inhibitorischen Neurotransmittern und Synapsen (E/I-Balance) besser als bislang zu verstehen. Hierfür sollen zunächst Vorgehensweisen für die Differenzierung von kortikalen Organoiden aus hES-Zellen etabliert und ggf. optimiert, die Organoide zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Entwicklung umfassend auf morphologischer, molekularer und funktionaler Ebene charakterisiert und hierbei insbesondere der Zeitraum der entwicklungsabhängigen Umkehr des Chlorid-Ionen-Membranpotentials und damit der Effekte der von GABA abhängigen Neurotransmission ermittelt werden. Anschließend soll untersucht werden, ob und in welchem Ausmaß sowie in welchen Stadien der Organoid-Entwicklung bestimmte Anästhetika die entwicklungsabhängige Umkehr des Chlorid-Ionen-Membranpotentials beeinflussen bzw. beeinträchtigen können, wozu wiederum umfassende Analysen der Eigenschaften der Organoide auf morphologischer, molekularer und funktionaler Ebene durchgeführt werden sollen.

4. Hochrangigkeit der Forschungsziele

Entsprechend der im Antragsverfahren erbrachten wissenschaftlich begründeten Darlegung dienen die genehmigten Forschungsarbeiten unter Verwendung von hES-Zellen nach übereinstimmender Auffassung der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung (ZES) und des Robert Koch-Institutes (RKI) der Erreichung hochrangiger Forschungsziele in der Grundlagenforschung, wobei die Ergebnisse voraussichtlich auch für die Entwicklung neuer präventiver Verfahren zur Anwendung bei Menschen relevant sind.

In Hinblick auf die Nutzung von Anästhetika zur Narkose und Sedierung ist der Übergang der GABAergen Neurotransmission von einer depolarisierenden zu einer hyperpolarisierenden Wirkung von erheblichem Interesse, da die Wirkung einer Vielzahl von Anästhetika, beispielsweise Isofluran, Sevofluran, Propofol, Midazolam sowie die Gruppe der Benzodiazepine, von der hyperpolarisierend-inhibitorischen Funktion von GABA abhängt. Die Tatsache, dass GABA während der Gehirnentwicklung im Fötus eine eher depolarisierende Wirkung hat, ist für die Anwendung bestimmter Anästhetika von erheblicher Relevanz, da diese ggf. einen bisher unbekannten Einfluss auf die E/I-Balance und somit auf die Gehirnentwicklung ungeborener und neugeborener Kinder haben könnten. Derzeit gehört beispielsweise der GABA-Rezeptor-Agonist Propofol zu den am häufigsten verwendeten Medikamenten bei der Einleitung einer Vollnarkose beim Kaiserschnitt, und bisherige Empfehlungen gehen davon aus, dass Propofol bei Indikation während der gesamten Schwangerschaft zur Einleitung und Aufrechterhaltung der Narkose verwendet werden kann. Das Anwendungsgebiet des GABA-Rezeptor-Agonisten Midazolam umfasst u.a. Krampfanfälle bei Säuglingen.

Im Rahmen der hier genehmigten Forschungsarbeiten soll das Phänomen der entwicklungsabhängigen Umkehr des Chlorid-Ionen-Membranpotentials an sich entwickelnden humanen kortikalen Organoiden umfassend untersucht werden. Dabei soll zunächst insbesondere die entwicklungsbedingte Zunahme glutamaterger und GABAerger Neurone dokumentiert und ein zelluläres Korrelat für die E/I-Balance geschaffen werden. Parallel hierzu sollen die mit der zunehmenden Entwicklung der Organoide einhergehenden Veränderungen in den Expressionsmustern auf der Ebene des Transkriptoms dokumentiert werden, die mit entwicklungsbiologisch relevanten Prozessen und Signalwegen assoziiert sind. Zudem sollen die Organoide elektrophysiologisch untersucht und insbesondere die Häufigkeit, Amplitude und Synchronisation spontan auftretender Aktionspotentiale nach Zugabe von Antagonisten für Glutamat bzw. GABA ermittelt werden. Im Ergebnis dieser Untersuchungen soll ein Zellmodell verfügbar sein, das die entwicklungsabhängige Umkehr des Chlorid-Ionen-Membranpotentials während der Gehirnentwicklung des Menschen mit ausreichender Sicherheit nachbilden kann und an dem die weiteren im Forschungsvorhaben geplanten Untersuchungen durchgeführt werden können.

Anschließend soll dann eingehend analysiert werden, welche Auswirkungen die Exposition des zuvor etablierten Modells gegenüber verschiedenen Anästhetika für die frühe Hirnentwicklung hat. Insbesondere soll geklärt werden, welche Effekte derzeit in der klinischen Praxis zur Narkose bzw. Sedierung verwendete Pharmaka wie Propofol oder Benzodiazepine auf die E/I-Balance während der Entwicklung GABAerger und glutamaterger Neurone im Organoid-Modell hat. Nach Anästhetika-Exposition soll das Zellmodell zu verschiedenen Zeitpunkten umfassend auf morphologischer, molekularer und funktionaler Ebene charakterisiert werden, wobei insbesondere das Transkriptom untersucht und die elektrische Aktivität präzise bestimmt werden sollen. Dabei soll u.a. geklärt werden, ob und in welchem Maße Anästhetika die entwicklungsabhängige Umkehrung des Chlorid-Ionen-Membranpotentials beeinträchtigen. Zudem soll Aufschluss darüber erlangt werden, welcher Zusammenhang zwischen entwicklungsabhängiger Differenzierung von Neuronen, neuronaler Aktivität und den jeweiligen Transkriptomprofilen besteht, was sowohl für das molekulare Verständnis von entwicklungsneurobiologischen als auch für die Beantwortung von medizinischen Fragestellungen von Bedeutung sein kann, da eine Vielzahl neurologischer und neuropsychiatrischer Erkrankungen wie Epilepsie und Autismus mit Störungen in der frühen Gehirnentwicklung assoziiert sind. Die im Rahmen dieses Forschungsvorhabens zu etablierenden Hirn-Organoide  sind zudem dafür geeignet, krankheitsassoziierte Störungen des GABAergen Systems zu simulieren und diese ggf. mit Veränderungen in der Expression bestimmter Gene zu assoziieren, was ggf. zu einem tiefergehenden Verständnis der molekularen Auswirkungen von Entwicklungsstörungen des Gehirns zu besonders kritischen Zeitpunkten führen könnte.

Insgesamt verspricht das geplante Forschungsvorhaben einen wesentlichen Erkenntnisgewinn über das Wirkungsprofil von Anästhetika in einem entwicklungsneurobiologisch relevanten Modell für die Frühentwicklung des menschlichen Gehirns, was auch für die Risikobewertung anästhesiologischer Verfahren von erheblicher Relevanz sein kann.

5. Notwendige Vorarbeiten und Erforderlichkeit der Verwendung von humanen em­bryonalen Stammzellen für die mit dem Vorhaben verfolgten Fragestellungen

Im Antragsverfahren wurde dargelegt, dass die Forschungsfragen in allen wesentlichen Punkten weitestmöglich vorgeklärt sind.

Zu entwicklungsabhängigen Effekten von Anästhetika liegen aus tierexperimentellen Studien umfangreiche Erkenntnisse vor. So wurde z.B. gezeigt, dass Isofluran und Propofol in neonatalen Nagern die Synapsendichte von kortikalen Neuronen reduzieren und neuronale Apoptose induzieren können. Anästhetika können zudem weitreichende Effekte auf das Transkriptionsgeschehen ausüben, was in zahlreichen Studien beschrieben wurde. Hinsichtlich der pharmakologischen Beeinflussung der Umkehrung des Chlorid-Ionen-Membranpotentials liegen ebenfalls In-vivo- und In-vitro-Studien vor, die entwicklungsabhängige Effekte belegen. Zudem wurde eine gestörte entwicklungsabhängige Umkehrung der exzitatorischen Wirkung von GABA in einem Mausmodell für das Rett-Syndrom gezeigt, das durch Hirnentwicklungsstörungen gekennzeichnet ist. Ferner bestätigten Studien mit primären In-vitro-Zellkulturen neurotoxische Effekte von Propofol und anderen Anästhetika auf unreife Neurone. Andere Studien zeigten, dass eine Dysregulation des Chlorid-Ionen-Exportproteins KCC2 in kultivierten Neuronen deren Chlorid-Ionen-Membranpotential erhöht und in der Folge das Absterben von Neuronen bewirkt.

Protokolle für die Differenzierung von hES-Zellen in dreidimensionale Gehirn-Organoide sind aus der Literatur bekannt. Zudem liegen zahlreiche publizierte Arbeiten vor, in denen gezeigt wurde, dass aus hES-Zellen abgeleitete Gehirn-Organoide Aspekte der kortikalen Entwicklung beim Menschen in vitro rekapitulieren und daher als Zellmodell für die Untersuchung der Gehirnentwicklung gut geeignet sind.

Im Antragsverfahren wurde ferner dargelegt, dass sich der mit dem Forschungsvorhaben angestrebte Erkenntnisgewinn voraussichtlich nur unter Verwendung von hES-Zellen erreichen lässt.

Zwar haben tierexperimentelle Studien mit Nagern zur Aufklärung entwicklungsabhängiger Effekte von Anästhetika beigetragen, sie können jedoch aufgrund der bestehenden Spezies-spezifischen Unterschiede in der Entwicklung sowie in der Morphologie, Ultrastruktur, Physiologie und molekularen Biologie der Gehirne unterschiedlicher Spezies nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragen werden. Die Forschungsarbeiten erfordern daher den Einsatz menschlicher Zellen.

Die Forschungsziele können ferner nicht unter Nutzung anderer als humaner pluripotenter Stammzellen erreicht werden, da im Forschungsvorhaben Prozesse untersucht werden sollen, die in frühen Stadien der menschlichen neuronalen Entwicklung ablaufen. Alle nicht-pluripotenten humanen Zelltypen (adulte und fötale neurale Stammzellen, primäre Zellen, immortalisierte neurale Zellen) haben die hier relevanten Entwicklungsstadien aber bereits durchschritten und sind daher nicht für die Durchführung der Forschungsarbeiten und folglich nicht für die Erreichung der Forschungsziele geeignet. Zudem gibt es derzeit keine Anhaltspunkte dafür, dass andere als humane pluripotente Stammzellen reproduzierbar für die hier vorgesehene Herstellung von dreidimensionalen Gehirn-Organoiden genutzt und damit zur Erreichung der Forschungsziele eingesetzt werden könnten.

Nach derzeitigem Kenntnisstand lassen sich die Forschungsziele voraussichtlich auch nicht unter Verwendung humaner induzierter pluripotenter Stammzellen (hiPS-Zellen) erreichen. Da die Wirkung von Anästhetika auf die entwicklungsabhängige Umkehrung der depolarisierenden Wirkung zur hyperpolarisierenden Wirkung von GABA untersucht werden soll, sind Zellen erforderlich, die einen möglichst ursprünglichen Charakter aufweisen. Diese Voraussetzung erfüllen hiPS-Zellen nicht in gleichem Maße wie hES-Zellen. hiPS-Zellen haben aufgrund ihrer Ableitung aus somatischen Zellen ggf. bereits diverse Mutationen angereichert; hinzu kommen Mutationen und epigenetische Veränderungen, die durch den Reprogrammierungsprozess erworben werden, wodurch eindeutige Rückschlüsse auf die Ursachen für die erwarteten Effekte ggf. nicht oder nicht zweifelsfrei möglich sind. Ferner ist nicht abschließend geklärt, welche Konsequenzen die genetischen und epigenetischen Veränderungen infolge des Reprogrammierungsprozesses von hiPS-Zellen auf deren neuronales Differenzierungspotential und damit auf die Organoid-Bildung haben.

Stand: 11.06.2024

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