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1981 bis 1990: AIDS – die politische Dimension in den 1980er Jahren

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Modell des HI-Virus, gebaut in den 1980er Jahren von RKI-Wissenschaftler Hans Gelderblom. Quelle: © RKI Modell des HI-Virus, gebaut in den 1980er Jahren von RKI-Wissenschaftler Hans Gelderblom. Quelle: RKI

Der 17. Februar 1987 ist Rita Süssmuths 50. Geburtstag, und die CDU/CSU-Fraktion steckt mitten in Koalitionsverhandlungen mit der FDP. Gegen halb zwei Uhr nachts geht es um Maßnahmen gegen die Immunschwäche AIDS. Rita Süssmuth hat ihr Konzept durchdacht vorbereitet: Sie setzt vorrangig auf Prävention durch Aufklärung und eigenverantwortliches Handeln. Doch Helmut Kohl erteilt nicht ihr, der Gesundheitsministerin, zuerst das Wort. Sondern ihrem politischen Konkurrenten Peter Gauweiler von der CSU. Und er will Zwangstests, AIDS-Kranke kenntlich machen, im Zweifelsfall sogar „wegsperren“. Rita Süssmuth sieht in dieser Nacht keine Chance mehr für ihren Ansatz. „Wir sind auf der absoluten Verliererstraße“, wird sie ihren Kollegen nach den Verhandlungen sagen.

Zwei Dinge, erzählt Rita Süssmuth im zehnten Salon für Institutsgeschichte, habe sie in dieser Nacht im Februar 1987 gelernt. Dass man sich manchmal wie ein Maulwurf unter der Erde verkriechen muss, bis der Sturm vorüber ist, um dann wiederaufzutauchen. Und dass Erkenntnisse – „so wichtig sie sind“ – alleine nichts bringen. Sondern dass man die Menschen gewinnen muss. All das hat sie letzten Endes mit ihrem Team, mit vielen Unterstützern geschafft: Die Politikerin steht bis heute für eine menschenwürdige AIDS-Politik in Deutschland. Das besondere Stück des Abends ist ein auf elektronenmikroskopischen Aufnahmen basierendes Modell eines HI-Virus, gebaut von Wissenschaftlern des Robert Koch-Instituts in den Achtziger Jahren.

Eine Wissenschaftlerin wird Familienministerin

Rita Süssmuth gelangt auf Umwegen in die Politik. Die Sozialwissenschaftlerin lehrt zunächst an verschiedenen Hochschulen, Anfang der 1980er Jahre leitet sie das Forschungsinstitut „Frau und Gesellschaft“ in Hannover. 1985 fragt sie der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl völlig unerwartet, ob sie sich vorstellen könne, Familienminister Heiner Geißler abzulösen. Süssmuth kennt das Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit. Seit Jahren gehört sie dem wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen an. Sie sagt zu. „Ich dachte damals, dass mein Thema in erster Linie die Frauenpolitik sein würde. Ich wollte beitragen zu notwendigen Veränderungen.“ Es kommt anders.

1981 schreiben Ärzte in den USA zum ersten Mal über das Auftreten einer neuen Krankheit bei vormals gesunden, jungen, homosexuellen Männern. Ein Jahr später werden die ersten Fälle in Deutschland berichtet.

1981 schreiben Ärzte in den USA zum ersten Mal über das Auftreten einer neuen Krankheit bei vormals gesunden, jungen, homosexuellen Männern. Ein Jahr später werden die ersten Fälle in Deutschland berichtet. Als Rita Süssmuth 1985 ihr Amt antritt, spielt AIDS noch keine dramatisch große Rolle in der Gesundheitspolitik. „Das wichtigste Thema war damals Glykol in Wein.“ Doch dann, sagt sie, habe die Krankheit sie förmlich überrollt.

AIDS: Große Angst und viele Unbekannte

AIDS wird in erster Linie sexuell und beim intravenösen Drogenkonsum übertragen. Die frühen Achtziger Jahre sind geprägt von einer diffusen Angst, von Feindseligkeiten und Mitleidslosigkeit gegenüber infizierten Homosexuellen und Drogenabhängigen – dabei sind längst auch heterosexuelle Menschen und Bluterkranke betroffen. Die Erkrankten sterben. Eine ursächliche Behandlung gibt es nicht. Und die Fallzahlen steigen stetig.

1985 weiß man noch wenig über die Immunschwäche. Sehr rasch folgte eine regelrechte Flut an neuen Informationen, die nicht immer stimmten und daher sorgfältig geprüft werden mussten, berichtet Süssmuth. Auf wackeliger wissenschaftlicher Basis müssen die Politiker Entscheidungen darüber treffen, wie die Bevölkerung am besten vor der Infektionskrankheit zu schützen sei. In Bayern diskutiert man offen darüber, Schwulenclubs zu schließen, Erkrankte in Heimen zu internieren und alle „Ansteckungsverdächtigen“ zu testen – notfalls auch mit Gewalt. Aus Unwissenheit halten viele Menschen in Deutschland das damals für den richtigen Weg.

Rita Süssmuth dagegen lehnt Ausgrenzung, Stigmatisierung und Isolation ab. Ihr Leitsatz lautet: „Wir bekämpfen die Krankheit, nicht die Betroffenen.“ Durch Aufklärung wollen sie und ihr Team den Betroffenen helfen und gleichzeitig die weitere Ausbreitung in der Bevölkerung verhindern.

Bereits im November 1985 lässt Süssmuths Ministerium eine Broschüre über AIDS an alle Haushalte in Deutschland verteilen. Die Broschüre informiert über die Infektion und Ansteckungswege, darüber, wie man sich schützen kann – etwa durch Kondome – und was Infizierte beachten sollten. Damals ging man noch fälschlicherweise davon aus, dass eine Ansteckung mit dem HI-Virus nur bei bis zu 20 Prozent der Menschen zu AIDS führt – das war dem geringen Kenntnisstand zu der Zeit geschuldet, sagt Süssmuth. Selbstschutz und verantwortliches Verhalten gegenüber den anderen sind unverzichtbar, zwingend notwendig in der Gesellschaft.

Doch sie ist überzeugt: Wer um die Gefahren einer HIV-Infektion weiß, wird sich, um sein Leben zu retten, anders verhalten und sich und andere schützen.

Die Politikerin arbeitet eng mit Ärzten und Wissenschaftlern, aber gerade auch mit den AIDS-Hilfen zusammen. „Die hatten Methoden, die wir als Christdemokraten gar nicht vertreten durften“, sagt sie. „Das Wort Kondom zu gebrauchen kam fast einem Rausschmiss aus dem Amt gleich.“ Es ist eine vergleichsweise kleine Gruppe, und Süssmuth kann damals nicht wissen, ob der Präventionsansatz tatsächlich wirksam werden würde. Doch sie ist überzeugt: Wer um die Gefahren einer HIV-Infektion weiß, wird sich, um sein Leben zu retten, anders verhalten und sich und andere schützen. Aus Überzeugung, nicht aus Zwang. So sieht es auch Meinrad Koch, der damalige Leiter der Virologie im Robert Koch-Institut und spätere Leiter des 1988 gegründeten AIDS Zentrums. „Und viele, viele Menschen halfen uns, die Aufklärung in der Breite wirkte, die Zahl der Neu-Infizierten ging zurück“, berichtet Rita Süssmuth.

Schlangestehen für anonyme HIV-Tests

In den 1980er Jahren gehört das RKI noch zum Bundesgesundheitsamt. Die Wissenschaftler haben AIDS von Anfang an im Blick: 1982 richtet die Medizinerin Johanna L’age-Stehr ein AIDS-Fallregister für Deutschland ein. Ärzte können hier freiwillig und anonym AIDS-Erkrankungen und Todesfälle melden. Und mit Hilfe der Elektronenmikroskopie gelingt es Hans Gelderblom weltweit als erstem, die Struktur des HI-Virus aufzuklären und ein Modell des Virus zu erstellen.

„Das Robert Koch-Institut war für mich in dieser Zeit sehr wichtig“, sagt Rita Süssmuth. „Nicht nur, weil sie Zahlen geliefert haben. Sie haben Vertrauen aufgebaut, indem sie den Menschen gesagt haben: Ihr könnt euch freiwillig testen lassen. Die Daten bleiben anonym.“ In den 1980er Jahren macht sich Meinrad Koch persönlich auf den Weg in die Discos und Schwulenclubs, um mit den Menschen über AIDS zu sprechen. Im RKI richtet er eine anonyme Test- und Beratungsstelle ein. Die Schlange der Testwilligen geht quer durchs Gebäude. „Er hat sich immer engagiert für seine Überzeugung, seine Haltung. Ihm war nichts zu viel“, sagt Süssmuth. Die Deutsche AIDS-Hilfe schreibt auf ihrer Webseite: „Ihm ist es mit zu verdanken, dass sich in der AIDS Politik der 1980er Jahre eine Linie der Toleranz, Aufklärung und Forschung durchsetzte.“

1987: Die Wende hin zu einer menschlichen AIDS-Politik

Doch die Koalitionsverhandlungen im Februar 1987 führen Rita Süssmuth und ihren Mitstreitern erneut vor Augen, dass sie zunächst mit ihrer Präventionsstrategie in der Minderheit sind. Als sie im Morgengrauen den Sitzungssaal verlässt, sieht sie kaum noch Chancen für ihr Konzept. Sie denkt an die AIDS-Kranken, die sie selbst besucht hat und nicht im Stich lassen will. „Ich gebe ungern auf, wenn ich von einer Sache überzeugt bin“, sagt sie.

Rita Süssmuth bleibt im Amt. Ihr Team kämpft weiter für die AIDS-Aufklärung und den Schutz der Betroffenen, Tag und Nacht, mit Fakten und Argumenten, in Diskussionen und Gesprächen, bei Auftritten. Und immer mehr Menschen unterstützen sie dabei. Nicht nur Ärzte, AIDS-Hilfen und Seelsorger, auch Bands, Theater, Autoren und Bürger. Im Herbst 1987 gelingt ihnen die Wende. Die Mehrheit der Bevölkerung spricht sich jetzt für Aufklärung, Selbstschutz und verstärkte Eigenverantwortlichkeit aus – und gegen Zwangstests. Die Bundesregierung startet ihr „Sofortprogramm zur Bekämpfung von AIDS“, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ihre Kampagne „Gib AIDS keine Chance“. 1988 wird am Bundesgesundheitsamt das AIDS-Zentrum errichtet, das unter anderem epidemiologische Daten erheben und bewerten, die HIV-Diagnostik verbessern, die klinische Forschung koordinieren und Bekämpfungsstrategien entwickeln soll.

„Diese Auseinandersetzung mit AIDS, die so aussichtslos schien wie nur irgendetwas, hat mir das erste Mal gezeigt: Veränderung ist doch möglich“, sagt Süssmuth. AIDS habe viel bewegt. Gezeigt, dass Sexualität zum Menschen gehört und nicht staatlich kontrolliert werden kann. Dass Prävention tatsächlich wirkt. Das Land hat gelernt, mit der Krankheit zu leben. Ohne eine starke Zivilgesellschaft, sagt Rita Süssmuth, hätten sie es nicht geschafft. Gelernt wurde auch mit fachlicher und menschlicher Sprache über Sexualität zu sprechen, die Tabuisierung zu durchbrechen sowie sexuelle Gewalt und Unterdrückung zu überwinden. Es bleibt viel zu tun, sagt die Politikerin. Veränderung zum Besseren braucht neues Wissen, alternatives Sehen, Denken und Handeln. Es befreit, erweitert, ermöglicht mehr Eigenverantwortung und Selbstbestimmung.

Stand: 16.10.2017

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