143. Genehmigung nach dem Stammzellgesetz
1. Genehmigungsinhaberin
Frau Dr. Katrin Schrenk-Siemens, Universität Heidelberg
2. Zell-Linien
Die genehmigten Forschungsarbeiten erfolgen unter Verwendung der folgenden humanen embryonalen Stammzell-Linien:
- H1 (WiCell Research Institute, Madison, WI, USA)
- H9 (WiCell Research Institute, Madison, WI, USA)
- HES-1 (ES Cell International Pte Ltd, Singapur)
- HUES7 (Harvard University, Cambridge, MA, USA)
Die Genehmigung gilt jeweils auch für Sub-Linien (z.B. für klonale Sub-Linien oder genetisch modifizierte Derivate) der genannten humanen embryonalen Stammzell-Linien.
3. Angaben zum Forschungsvorhaben
Im Rahmen der genehmigten Forschungsarbeiten unter Verwendung von humanen embryonalen Stammzellen (hES-Zellen) sollen auf menschlichen Nervenzellen basierende neuronale Netzwerke etabliert und charakterisiert werden, an denen genetische und zelluläre Grundlagen physiologischer und pathologischer Schmerzen analysiert, Ursachen von Schmerzüberempfindlichkeit und Schmerztoleranz bestimmt und künftig ggf. Substanzen identifiziert werden können, die Grundlage für die Entwicklung neuartiger Schmerzmittel sein können. Hierfür sollen hES-Zellen in Richtung von sensorischen Neuronen und Neuronen des Zentralnervensystems (ZNS) differenziert und diese dann in einem Mehrkammer-Kultursystem kokultiviert werden, in dem sich − über Mikrokanäle zwischen den Kammern − synaptische Kontakte zwischen verschiedenen Nervenzelltypen bilden können. In diesen Zellmodellen sollen dann die Struktur und Funktion der jeweils gebildeten Synapsen bestimmt sowie umfangreiche Untersuchungen zur Plastizität menschlicher Synapsen durchgeführt werden. Anschließend soll ermittelt werden, welche Effekte schmerzauslösende Stimuli bzw. mit pathologischem Schmerz assoziierte Bedingungen auf die Struktur und Funktion der Synapsen haben. Ferner sollen die Effekte von mit Schmerzsyndromen assoziierten Mutationen bzw. Polymorphismen auf die etablierten neuronalen Netzwerke untersucht werden. Dazu sollen entsprechende Mutationen in hES-Zellen erzeugt, die hES-Zellen in die o. g. Typen von Neuronen differenziert und ihre Eigenschaften in den oben beschriebenen neuronalen Netzwerken untersucht werden. Schließlich soll untersucht werden, ob sich die etablierten Zellmodelle zur Bestimmung der molekularen und zellulären Effekte schmerzlindernder Substanzen eignen, wofür insbesondere die Wirkung entsprechender Substanzen auf die synaptische Übertragung zwischen Neuronen sowie auf die Aktivität von Signalübertragungswegen überprüft werden soll, die an der Schmerztransduktion beteiligt sind.
4. Hochrangigkeit der Forschungsziele
Die genehmigten Forschungsarbeiten unter Verwendung von hES-Zellen dienen nach übereinstimmender Auffassung der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung (ZES) und des Robert Koch-Institutes (RKI) in erster Linie hochrangigen Forschungszielen für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn im Rahmen der Grundlagenforschung.
Die Vorgänge, die bei der Wahrnehmung und Weiterleitung von Schmerz im menschlichen Organismus ablaufen, sind auf molekularer Ebene derzeit nur unvollständig verstanden. Insbesondere pathologischer (chronischer) Schmerz ist jedoch ein bedeutsames medizinisches Problem, von dem ca. 1/5 der Weltbevölkerung betroffen ist. Für Deutschland wird angegeben, dass etwa 12 bis 15 Millionen Menschen unter chronischen, länger andauernden oder wiederkehrenden Schmerzen leiden, wobei etwa fünf Millionen Patienten stark beeinträchtigt sind. Da die Therapieoptionen derzeit unzureichend sind und viele Kandidaten für neue Wirkstoffe die klinische Prüfung − auch aufgrund der nur eingeschränkten Übertragbarkeit der Resultate präklinischer Forschung an Tiermodellen auf den Menschen − nicht bestehen, ist die Etablierung von humanen Zellmodellen für die Schmerzforschung von erheblichem Interesse.
Nachdem die hier angestrebten In-vitro-Modelle für neuronale Netzwerke von sensorischen und ZNS-Neuronen etabliert sind, sollen daran vor allem Struktur und Funktion der synaptischen Verbindungen zwischen verschiedenen Typen von Neuronen (sensorische vs. ZNS-Neurone) sowie zwischen verschiedenen Subtypen von ZNS-Neuronen (exzitatorische vs. inhibitorische Neurone) detailliert untersucht werden. Daraus werden sich aller Voraussicht nach neue Erkenntnisse über die morphologischen, ultrastrukturellen, biochemischen, molekularen, pharmakologischen und funktionalen Eigenschaften solcher Synapsen im Menschen ergeben, die aufgrund des Fehlens geeigneter humaner Modellsysteme bislang nicht oder nur schwer zugänglich waren. Auf Grundlage der Kenntnisse über den „Grundzustand“ der Synapsen sollen dann Veränderungen in den Neuronen und an den Synapsen infolge der Simulation physiologischen und pathologischen Schmerzes bestimmt werden, wobei insbesondere die Ultrastruktur der Prä- und Postsynapse, die elektrischen Eigenschaften der Zellen, die spontane und evozierte synaptische Transmission sowie das Transkriptom der Zellen detailliert untersucht werden sollen. Diese Untersuchungen werden voraussichtlich einerseits zu neuen Erkenntnissen über Struktur und Funktion spezifischer menschlicher Synapsen führen, andererseits kann im Ergebnis abgeschätzt werden, ob und inwieweit die etablierten Zellkultursysteme als Modelle zur Untersuchung molekularer und elektrophysiologischer Prozesse bei der Entstehung und Weiterleitung von Schmerz beim Menschen nutzbar sind. In diesem Zusammenhang können sich neue Erkenntnisse über die molekularen und elektrophysiologischen Prozesse ergeben, die an den genannten synaptischen Verbindungen nach Induktion von Schmerzen auftreten und die ggf. für das Schmerzgeschehen beim Menschen relevant sind.
Ferner soll untersucht werden, welche Effekte spezifische Mutationen in Neuronen haben, die bekanntermaßen mit einer erhöhten bzw. verminderten Sensitivität gegenüber Schmerzen oder mit Veränderungen in der Reaktion auf Schmerzmittel assoziiert sind. Nach Etablierung der entsprechenden genetischen Veränderungen in hES-Zellen sollen diese zu Neuronen differenziert und die Effekte der jeweiligen genetischen Veränderung auf die Struktur und Funktion der Synapsen im Grundzustand und nach Schmerzsimulation bestimmt werden, woraus sich beispielsweise neue Erkenntnisse über molekulare Veränderungen bei durch die entsprechenden Mutationen bedingten Schmerz-Syndrome ergeben können.
Zudem soll die Nutzbarkeit der im Vorhaben entwickelten In-vitro-Modelle für pharmakologische Fragestellungen bewertet werden, insbesondere ob und inwieweit schmerzlindernde Effekte von Analgetika auf molekularer und elektrophysiologischer Ebene abgebildet werden können, und beispielsweise eine Normalisierung der Struktur und Funktion der Synapsen bewirken können. Eine durch Analgetika bewirkte Reversion zuvor beobachteter, durch schmerzauslösende Faktoren verursachter synaptischer Veränderungen würde zum einen den proof of concept dafür darstellen, dass die unter Einwirkung schmerzverursachender Bedingungen beobachteten strukturellen und elektrophysiologischen Veränderungen im genutzten Zellmodell tatsächlich menschlichen Schmerz abbilden; zum anderen könnte aufgrund der erwarteten Ergebnisse eingeschätzt werden, ob sich die hier etablierten In-vitro-Zellmodelle als pharmakologische Screening-Systeme für neue analgetische Wirkstoffkandidaten eignen, was vor dem Hintergrund des Mangels an modernen Analgetika bedeutsam wäre.
5. Notwendige Vorarbeiten und Erforderlichkeit der Verwendung von humanen embryonalen Stammzellen für die mit dem Vorhaben verfolgten Fragestellungen
Im Antragsverfahren wurde dargelegt, dass das Projekt in allen wesentlichen Punkten hinreichend vorgeklärt ist.
Die zentrale Fragestellung, die im Rahmen des Forschungsvorhabens beantwortet werden soll, bezieht sich auf strukturelle und funktionale Veränderungen an humanen Synapsen unter dem Einfluss von physiologischem und pathologischem Schmerz beim Menschen. Die molekularen und elektrophysiologischen Mechanismen der Wahrnehmung und Weiterleitung schmerzauslösender Reize sind in großem Umfang unter Einsatz von Nagetiermodellen untersucht worden. Diese haben zum Verständnis der grundlegenden Signalwege, neuronalen Netzwerke und molekularen Aspekte beigetragen, die an der Transduktion sensorischer Reize beteiligt sind. Die Tatsache, dass der Übergang von physiologischem zu pathologischem Schmerz mit einer Veränderung der synaptischen Plastizität einhergeht, ist in der Literatur ebenfalls umfangreich belegt. Genetische Veränderungen, die mit einer veränderten Sensibilität gegenüber schmerzhaften Reizen einhergehen oder die das Ansprechen auf schmerzlindernde Medikamente beeinflussen, sind aus klinischen Studien und Genomstudien bekannt; hier relevante Gene sind bereits identifiziert worden. Die zum Einsatz kommenden Vorgehensweisen für die Differenzierung humaner ES-Zellen in die jeweils benötigten sensorischen und zentralen Neurone sind bereits publiziert, sie wurden von der Genehmigungsinhaberin unter Verwendung von hES-Zellen im Rahmen zuvor genehmigter Forschungsarbeiten unter Verwendung von hES-Zellen mitentwickelt. Auch das hier zur Anwendung kommende Zellkultursystem wurde bereits erfolgreich für die Modellierung humaner neuronaler Netzwerke genutzt, wobei sich synaptische Kontakte zwischen verschiedenen Typen humaner Neurone bildeten, die sich in verschiedenen Kammern des genutzten Zellkultursystems befanden. Die beabsichtigten Vorgehensweisen, beispielsweise zur genetischen Veränderung von hES-Zellen, zur Analyse der neuronalen Morphologie und Aktivität sowie zur Untersuchung des Transkriptoms, sind in der wissenschaftlichen Literatur vielfach beschrieben worden und gut etabliert.
Im Antragsverfahren wurde ferner dargelegt, dass sich der mit dem Forschungsvorhaben angestrebte Erkenntnisgewinn voraussichtlich nur unter Verwendung von hES-Zellen erreichen lässt.
Zwar sind zahlreiche und wesentliche Fragen zur Wahrnehmung und Weiterleitung von Schmerzen bereits im Tiermodell untersucht worden, jedoch können diese Modelle nur eingeschränkt die Komplexität und Physiologie des Schmerzgeschehens beim Menschen abbilden. So werden beispielsweise Gene für bestimmte Faktoren, die am Schmerzgeschehen beteiligt sind, in sensorischen Neuronen von Maus und Mensch unterschiedlich exprimiert, so dass tierische Zellen oder Tiermodelle zur Erreichung der Forschungsziele nicht geeignet sind.
Die Forschungsziele können ferner nicht unter Nutzung anderer humaner Zellen als humaner pluripotenter Stammzellen erreicht werden, beispielsweise primärer adulter oder fötaler Zellen. Die Gewinnung der zur Herstellung von sensorischen Neuronen erforderlichen Vorläuferzellen (Neuralleistenzellen) ist selbst aus menschlichen Föten so gut wie unmöglich, da Neuralleistenzellen nur sehr früh in der embryonalen Entwicklung in einem sehr engen zeitlichen Fenster auftreten. Auch die Gewinnung ausreichender Mengen humaner exzitatorischer und inhibitorischer ZNS-Neurone erfordert derzeit die Verwendung pluripotenter Stammzellen. Eine Herstellung aus humanen neuralen fötalen Stammzellen ist zwar möglich, jedoch stehen derartige Zellen, die aus abgetriebenen Föten gewonnen werden können, nicht in der für die Projektdurchführung erforderlichen Menge und in reproduzierbarer Qualität zur Verfügung. Zudem erfordert die erfolgreiche Durchführung der Forschungsarbeiten umfangreiche genetische Veränderungen an den Ausgangszellen, die in aus menschlichen Föten gewonnenen Vorläuferzellen in erheblich geringerem Umfang als in pluripotenten Stammzellen und häufig erst nach Immortalisierung vorgenommen werden können.
Die Forschungsziele können nach derzeitigem Kenntnisstand auch nicht unter Nutzung von patientenspezifischen humanen induzierten pluripotenten Stammzellen (hiPS-Zellen) durchgeführt werden. hiPS-Zellen können – zusätzlich zu der durch einen unterschiedlichen genetischen Hintergrund bedingten Variabilität – reprogrammierungsbedingte genetische und epigenetische Defekte aufweisen. Mit Blick auf die Tatsache, dass bei einigen Formen von Schmerz phänotypische Unterschiede in der epigenetischen Ausstattung der Patienten von hoher Bedeutung zu sein scheinen, ist ein möglichst ursprüngliches Epigenom der genutzten Zellen jedoch von essentieller Bedeutung für die hier zu klärenden Forschungsfragen. Zudem bestehen, wie kürzlich in einer breit angelegten Studie explizit gezeigt wurde, nach Differenzierung von verschiedenen hiPS-Zelllinien in sensorische Neurone erhebliche Unterschiede bezüglich der Expression zahlreicher Gene, deren Ursachen bislang nicht bekannt sind.
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