116. Genehmigung nach dem Stammzellgesetz
1. Genehmigungsinhaber(in)
Herr Prof. Dr. Svante Pääbo, Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie, Leipzig
2. Zell-Linien
Die genehmigten Forschungsarbeiten erfolgen unter Verwendung der folgenden humanen embryonalen Stammzell-Linie:
- H9 (WiCell Research Institute, Madison, WI, USA)
Die Genehmigung gilt auch für die Einfuhr und Verwendung von Sub-Linien (z.B. von klonalen Sub-Linien oder genetisch modifizierten Derivaten) der genannten humanen embryonalen Stammzell-Linie.
3. Angaben zum Forschungsvorhaben
Gegenstand der genehmigten Forschungsarbeiten unter Nutzung von hES-Zellen ist die Untersuchung der Rolle insbesondere humanspezifischer Gene bei der Entwicklung zerebraler Organoide. Das Vorhaben gliedert sich in drei Teilprojekte. Im ersten Teilprojekt sollen – auf Grundlage publizierter Protokolle – Vorgehensweisen für die Generierung zerebraler Organoide aus hES-Zellen etabliert und weiterentwickelt werden. Anschließend sollen Gene für Transkriptionsfaktoren mit Relevanz für frühe neurale Differenzierungsprozesse bzw. an sie grenzende (potentiell regulatorische) genomische Elemente in hES-Zellen ausgeschaltet und überprüft werden, welche Defizite bei der Entwicklung zerebraler Organoide aus den so veränderten Zellen auftreten, wobei Untersuchungen zur Morphologie der Organoide, zur Präsenz und zu den Eigenschaften bestimmter neuraler Vorläuferzellen sowie zu möglichen Veränderungen im Transkriptom dieser Zellen erfolgen sollen. In einem zweiten Teilprojekt sollen die Konsequenzen eines knockout von Genen untersucht werden, die humanspezifisch sind (also keine Äquivalente im Mausgenom haben) und denen eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung u. a. des menschlichen Gehirns zugeschrieben wird. Dazu sollen die entsprechenden Gene in hES-Zellen funktional deletiert und aus den genetisch veränderten hES-Zellen gewonnene zerebrale Organoide hinsichtlich der in Teilprojekt 1 benannten Parameter untersucht werden, wobei insbesondere die Zusammensetzung der kortikalen Vorläuferzell-Populationen, ihre Proliferation sowie ihr Transkriptionsmuster von Interesse sind. In einem dritten Teilprojekt sollen schließlich in hES-Zellen Gene, deren Produkte (potentielle) Relevanz für die Genese des menschlichen Kortex haben, so verändert werden, dass ihre Sequenz jener der entsprechenden Gene des Neandertalers (Homo neanderthalensis) entsprechen. Die so „neandertalisierten“ hES-Zellen sollen dann zur Herstellung zerebraler Organoide genutzt und diese mit aus Wildtyp-hES-Zellen gewonnenen zerebralen Organoiden auf mögliche Unterschiede in der Morphologie sowie in der Zusammensetzung, in der Proliferation und im Transkriptom kortikaler neuraler (Vorläufer)Zellpopulationen verglichen werden. Darüber hinaus sollen auch Gene, deren Produkte potentielle Relevanz für die Genese des Kortex haben und die im (anatomisch) modernen Menschen (Homo sapiens) und im Neandertaler identisch sind, so verändert werden, dass ihre Sequenz jener der entsprechenden Gene in Primaten (und ggf. anderen Säugertieren) entspricht. Die Auswirkungen dieser genetischen Veränderungen auf die Bildung und auf die Eigenschaften der entsprechenden zerebralen Organoide sollen dann umfassend bestimmt werden.
4. Hochrangigkeit der Forschungsziele
Entsprechend der im Antragsverfahren erbrachten wissenschaftlich begründeten Darlegung dienen die genehmigten Forschungsarbeiten unter Verwendung von hES-Zellen nach übereinstimmender Auffassung der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung (ZES) und des Robert Koch-Institutes (RKI) hochrangigen Forschungszielen für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn für die Grundlagenforschung. Für diese Beurteilung sind die folgenden Gründe maßgeblich:
Die erst seit kurzem bestehende Verfügbarkeit eines auf pluripotenten Stammzellen basierenden, dreidimensionalen Organoid-Modells des sich entwickelnden menschlichen Gehirns eröffnet die Möglichkeit, drängende Fragen nach der Genese des menschlichen Gehirns zu beantworten, beispielsweise nach der Entstehung und Zusammensetzung der verschiedenen kortikalen Keimzonen oder nach der Rolle spezifischer neuraler Vorläuferzellen, die vorwiegend im sich entwickelnden menschlichen Gehirn, nicht aber im Nagergehirn, auftreten. Die genehmigten Arbeiten zielen – unter Nutzung der genannten zerebralen Organoide – im wesentlichen auf die Klärung von drei Fragestellungen.
Erstens soll die Rolle von Transkriptionsfaktoren, die bekanntermaßen an der Regulation der Genese des Neokortex beteiligt sind, vertieft untersucht und in die Analysen auch genetische Elemente einbezogen werden, die (mutmaßlich) die Expression der die Transkriptionsfaktoren codierenden Gene bzw. deren Funktion kontrollieren. Die Rolle der hier interessierenden Transkriptionsfaktoren bei der Entwicklung des Neokortex in Säugetieren ist zwar gut bekannt; zu möglichen spezifischen Funktionen bei der Genese des menschlichen Kortex liegen jedoch – aufgrund des bisherigen Mangels an geeigneten Modellsystemen – bislang nur unzureichende Informationen vor. Die genehmigten Forschungsarbeiten sollen die Konsequenzen eines funktionalen knockout der Gene für diese Transkriptionsfaktoren sowie der Deletion (potentiell) regulatorischer genetischer Elemente (insbesondere lncRNAs) auf die Zusammensetzung und auf die Eigenschaften der kortikalen Keimzonen im Organoid-Modell sichtbar machen und beispielsweise zu neuen Erkenntnissen über die bislang nur unvollständig verstandene, zeitlich streng regulierte Wirkung solcher Transkriptionsfaktoren (sowie der von ihnen kontrollierten Gene und Signalwege) auf die Kortikogenese und damit insgesamt zu einem tieferes Verständnis der molekularen Grundlagen der Entwicklung des Neokortex beim Menschen führen.
Zweitens soll mittels Funktionsverlust-Mutagenesen eruiert werden, ob und wenn ja welche humanspezifischen Gene, die im sich entwickelnden Gehirn exprimiert werden, für die Entwicklung des Neokortex relevant sind und welche konkreten Funktionen ihre Genprodukte möglicherweise ausüben. Diese Arbeiten können voraussichtlich dazu beitragen, ein besseres Verständnis von der Funktion einzelner Gene und deren Produkte bei der Ausprägung spezifisch menschlicher Merkmale in der Gehirnentwicklung zu erlangen. Insbesondere soll der Zusammenhang zwischen der Funktion einzelner Gene und der Genese und den Eigenschaften jener neuralen Vorläuferzellpopulationen bestimmt werden, die in den verschiedenen Keimschichten des Neokortex präsent sind. Im Hinblick darauf, dass die Größe und Proliferationsfähigkeit dieser Vorläuferzellpopulationen von entscheidender Bedeutung für die Vergrößerung und Komplexität des humanen Neokortex sind, ist die Identifizierung der in die Entstehung und Verbreiterung dieser Vorläuferzellen involvierten Gene und Genprodukte von großer wissenschaftlicher Relevanz. Die ebenfalls geplante Analyse der Transkriptome spezifischer Vorläuferzellen in neuralen Organoiden, die aus Wildtyp- bzw. knockout-hES-Zellen hergestellt wurden, kann zudem zur Identifizierung von weiteren Genen, Genprodukten und Signalwegen führen, die für die Ausprägung eines humanspezifischen Neokortex bedeutsam sind.
Drittens schließlich sollen durch „Neandertalisierung“ von Genen, die für die Entwicklung des Neokortex bestimmend sind, Einblicke in die Veränderung der Gehirnentwicklung im Laufe der Evolution der Hominiden gewonnen werden. Hierzu sollen bestimmte Gene in hES-Zellen so verändert werden, dass sie die Sequenzinformation des Homo neanderthalensis tragen. Anschließend sollen die Konsequenzen dieser „Neandertalisierung“ für aus den entsprechenden hES-Zellen abgeleitete zerebrale Organoide bestimmt werden. Gene, deren Sequenzen sich in modernen Menschen und Neandertalern unterscheiden, werden u. a. in den Keimzonen des Neokortex exprimiert und codieren für Proteine, die mit Zellteilung und mit der mitotischen Spindel in Zusammenhang stehen bzw. bestimmte Funktionen in Nervenzellen haben. Durch die vergleichende Analyse der humanen Wildtyp-Organoide mit (in einzelnen Genen) „neandertalisierten“ zerebralen Organoiden lassen sich voraussichtlich Rückschlüsse auf die Funktion dieser Gene (und ihrer Genprodukte) für die Genese des Neokortex und ggf. auf ihre Rolle in der Evolutionsgeschichte des menschlichen Gehirns ziehen, was von erheblicher wissenschaftlicher Relevanz und von außerordentlichem erkenntnistheoretischem Interesse ist.
5. Notwendige Vorarbeiten und Erforderlichkeit der Verwendung von humanen embryonalen Stammzellen für die mit dem Vorhaben verfolgten Fragestellungen
Im Antragsverfahren wurde dargelegt, dass das Projekt in allen wesentlichen Punkten ausreichend vorgeklärt ist.
Die Herstellung von zerebralen Organoiden aus hES-Zellen ist bereits in der Literatur beschrieben worden. Die aus hES-Zellen der Linie H9 hergestellten Organoide zeigten Anzeichen einer kortikalen Entwicklung mit einer charakteristischen Organisation von spezifischen Vorläuferzellpopulationen in Keimzonen, die sich zu reifen kortikalen Neuronen entwickelten. Es wurde weiterhin dargelegt, dass die Funktionen der im ersten Teilprojekt interessierenden Transkriptionsfaktoren bei der Gehirnentwicklung umfänglich in murinen Tier- und Zellmodellen untersucht worden sind, teilweise in Arbeiten des Genehmigungsinhabers selbst. Die Funktionen der im zweiten Teilprojekt zu untersuchenden humanspezifischen Gene können – da sie nur im Menschen vorkommen und keine orthologen Gene in der Maus existieren – nicht in anderen Spezies vorgeklärt werden. Die Vorklärung erstreckt sich hier auf die Identifizierung der entsprechenden Gene und potentielle Konsequenzen ihrer Expression in einem heterologen System, was vom Genehmigungsinhaber unter Verweis auf eigene publizierte Arbeiten umfassend dargelegt wurde. Im Rahmen der Vorklärung des dritten Teilprojektes wurden im Antragsverfahren Arbeiten zur Entschlüsselung des Genoms von Neandertalern vorgelegt, in deren Rahmen u. a. ein Katalog der Veränderungen in einzelnen Basenpaaren (Single Nucleotid Changes, SNCs) erstellt wurde, die in den Genomen des modernen Menschen und des Neandertalers auftreten. Dabei wurden u. a. 87 exprimierte Gene identifiziert, von denen zahlreiche im sich entwickelnden Kortex aktiv sind. Es ist naheliegend, dass die Produkte dieser Gene eine Rolle bei der Ausprägung und Entwicklung der Hirnstruktur beim modernen Menschen haben könnten. Eine Vorklärung der Fragestellung, ob und inwieweit eine „Neandertalisierung“ von Genen des modernen Menschen die Entwicklung humaner zerebraler Organoide, insbesondere die Anzahl, Proliferation, Apoptoserate und weitere Eigenschaften spezifischer neuraler Vorläuferzellpopulationen, beeinflussen können, ist an tierischen Zellen oder im Tiermodell nicht möglich.
Im Antragsverfahren wurde ferner dargelegt, dass sich der mit dem Forschungsvorhaben angestrebte Erkenntnisgewinn voraussichtlich nur unter Verwendung von hES-Zellen erreichen lässt.
Zentrales Ziel der beantragten Forschungsarbeiten ist es, Besonderheiten der Genese des humanen Neokortex in Abgrenzung zu anderen Spezies besser als bislang zu verstehen. Dies ist nur unter Verwendung menschlicher Zellen möglich. Darüber hinaus können auch keine anderen als pluripotente Stammzellen des Menschen zur Erreichung der Forschungsziele eingesetzt werden. Insbesondere neurale (Vorläufer)Zellen aus fötalem Gehirngewebe wurden zwar in der Vergangenheit für die Klärung von Fragen der frühen Gehirnentwicklung des Menschen verwendet, jedoch können solche Zellen nicht die hier auch zu untersuchende sehr frühe Entwicklung des Neokortex rekapitulieren.
Ferner liegen derzeit keine hinreichenden Belege dafür vor, dass sich die Forschungsziele ggf. unter Nutzung humaner induzierter pluripotenter Stammzellen (hiPS-Zellen) erreichen ließen. Im Antragsverfahren wurde in Zusammenhang mit dieser Frage erstens darauf hingewiesen, dass hiPS-Zellen je nach ihrem Ursprung einen unbestimmten genetischen Hintergrund haben und aus diesem Grunde eine erhebliche Variabilität aufweisen, insbesondere hinsichtlich ihres Differenzierungsvermögens. Insofern ist es fraglich, ob ein spezifischer Phänotyp, der z. B. infolge des knockout eines bestimmten Gens beobachtet wird, allein auf die genetische Veränderung oder aber ggf. (auch) auf unbestimmte genetische Besonderheiten der verwendeten hiPS-Zell-Linie(n) zurückzuführen ist. hES-Zellen der Linie H9 sind hingegen bezüglich ihrer genetischen Eigenschaften und ihrer neuralen Differenzierungskapazität sehr umfangreich charakterisiert worden und wurden bereits in der Vergangenheit erfolgreich für die Etablierung humaner zerebraler Organoide verwendet. Zweitens ist nicht auszuschließen, dass Reprogrammierungsartefakte ein maßgebliches Problem für die authentische Organoidbildung aus hiPS-Zellen darstellen könnten. Bisherige Erfahrungen des Genehmigungsinhabers zeigen an, dass die aus hiPS-Zellen abgeleiteten zerebralen Organoide bezüglich ihrer Morphologie von uneinheitlicher Qualität waren und die Zahl der nutzbaren Organoide teils erheblich schwankte. Es wird davon ausgegangen, dass bei Verwendung einer gut charakterisierten hES-Zell-Linie diese Probleme ggf. nicht oder nicht in dem mit hiPS-Zellen beobachteten Ausmaß auftreten. Drittens schließlich wurde darauf verwiesen, dass hiPS-Zellen – unabhängig von ihrem genetischen Hintergrund – reprogrammierungsbedingte genetische und epigenetische Anomalitäten aufweisen können, die in der jüngeren Literatur vielfach und umfangreich beschrieben worden sind. Diese könnten ggf. die Effekte der Mutationen bzw. Deletionen verfälschen, die in die zur Organoid-Bildung genutzten Zellen eingeführt werden, und unter Umständen die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse beeinträchtigen.
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